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Neue digitale Mitwirkungsmöglichkeiten im Staat: Eine Fallstudie am Beispiel eines algorithmusbasierten Partizipationsinstruments Cover

Neue digitale Mitwirkungsmöglichkeiten im Staat: Eine Fallstudie am Beispiel eines algorithmusbasierten Partizipationsinstruments

Open Access
|Nov 2023

Full Article

1. Einleitung

Die Digitalisierung nimmt Einzug in immer mehr Bereiche der öffentlichen Verwaltung und begründete mit der elektronischen Partizipation (E-Partizipation) eine neue Form der Bürgerbeteiligung (Buess et al., 2022; Mertes et al., 2022; Fischer et al., 2020; Leitner, 2018; Zheng et al., 2014). Verwaltungen versprechen sich verschiedene Vorteile durch den Einsatz von E-Partizipationsinstrumenten, wie beispielsweise einen vereinfachten Austausch sowohl zwischen den BürgerInnen als auch zwischen BürgerInnen und Verwaltung, demokratisch legitimierte Entscheidungen oder einen Zuwachs des Vertrauens der BürgerInnen in die EntscheidungsträgerInnen (Fischer et al., 2020, S. 130–131; Kubicek & Aichholzer, 2016; Lupia, 2009). Neue Technologien erleichtern es der Bevölkerung, mit politischen EntscheidungsträgerInnen in einen Dialog treten zu können und ermöglichen eine direkte Mitwirkung der Bevölkerung an politischen Vorhaben, Entscheidungen und öffentlichen Massnahmen (Gilman & Peixoto, 2019, S. 109). Die Begrifflichkeiten für diese neue Form der digitalen Mitwirkung und Mitgestaltung reichen von «e-democracy» über «e-government» oder «e-collaboration» bis hin zu «open government» (Gilman & Peixoto, 2019, S. 109). E-Partizipation bezeichnet die Gesamtheit elektronischer Partizipation (Wirtz et al., 2018). Macintosh et al. (2015, S. 364) definieren E-Partizipation als “use of information and communication technologies to broaden and deepen political participation by enabling citizens to connect with one another and with their elected representatives.”1

Obwohl es für einige analoge Instrumente zur BürgerInnenbeteiligung inzwischen eine digitale Variante (wie beispielsweise Abstimmungen, Meinungsäusserungen) gibt, eröffnet die E-Partizipation völlig neue Möglichkeiten, die zuvor im analogen Bereich nicht realisierbar waren. Üblicherweise zeichnen sich E-Partizipationsprozesse dadurch aus, dass alle Teilnehmenden laufend und über längere Zeiträume neue Entscheidungsoptionen eingegeben können. Hierbei können Algorithmen beispielsweise zur Priorisierung von Entscheidungsoptionen eingesetzt werden. In Abgrenzung zu nicht-digitalen Beteiligungsverfahren, bei denen sich die Auswertung auf die tabellarische Aufbereitung der Daten begrenzt, wird daher hier der Begriff der algorithmusbasierten Partizipationsinstrumente verwendet.

In diesem Artikel wird diese neue Form der Mitwirkung anhand eines Partizipationsinstruments und anhand einer Fallstudie aus dem Kontext des öffentlichen Sektors erläutert. Neben der Erläuterung der Funktionsweise des algorithmusbasierten Partizipationsinstruments wird anhand eines Fallbeispiels veranschaulicht, wie ein solcher Partizipationsprozess mit Bevölkerung und Verwaltungen gestaltet werden kann und zu welchen Ergebnissen er führt. Der Praxisartikel gliedert sich in fünf Teile und ist folgendermassen aufgebaut: Auf die Einleitung folgt die theoretische Fundierung der normativen Bedeutung von Bevölkerungsbeteiligung im Kontext einer deliberativen Demokratie, bevor das Beispiel des Partizipationsinstruments vorgestellt wird. Im darauffolgenden Kapitel wird die Funktionsweise des Partizipationsinstruments anhand eines konkreten Anwendungsfalls genauer dargelegt und es werden die Vor- und Nachteile diskutiert. Der Artikel schliesst mit einer zusammenfassenden Diskussion und einem Ausblick auf zukünftige Forschung.

2. Deliberative Demokratie

Ein essenzieller Bestandteil für das Funktionieren von Demokratien stellt die aktive Partizipation von BürgerInnen dar (Bolzendahl & Coffé, 2013; Fischer et al., 2020; Michels & De Graaf, 2010; Ryfe, 2005). In klassischen, westlichen repräsentativen Demokraten ist eine solche Partizipation jedoch nur beschränkt möglich. Remer (2020) führt deshalb eine grosse Anzahl vergangener und gegenwärtiger Probleme westlicher Demokratien auf deren repräsentatives System zurück. Ferner stellt er eine wachsende Distanz zwischen Politik und BürgerInnen fest und führt aus, dass «steigende Ansprüche der Bürger[Innen] an mehr Beteiligung in politischen Sachfragen (…) eine Herausforderung für die repräsentative Demokratie» darstellen (Remer, 2020, S. 5). Ryfe (2005, S. 50) geht noch einen Schritt weiter und behauptet, dass in den meisten liberalen Demokratien der Partizipation lange Zeit wenig Bedeutung beigemessen wurde. Eine Demokratieform, in welcher dem öffentlichen Diskurs und der Mitbestimmung der BürgerInnen besondere Bedeutung beigemessen wird, ist die deliberative Demokratie (Habermas, 2009, 2022), wobei sich «deliberativ» ableitet vom lateinischen Wort «deliberare», was auf Deutsch «abwägen» bedeutet (Bundeszentrale für politische Bildung, 2023). Die deliberative Demokratie ist ein politisches Konzept und legt fundamentale Veränderungen im Wesen der Politik fest, welche neben den Grundlagen der politischen Entscheidungsfindung und den Kreis derer, die an den Entscheidungsprozessen beteiligt sind auch die Institutionen selbst, die diese Prozesse beherbergen, umfassen (Albrecht, 2014; Fung, 2005; Mendes, 2013).

Deliberative Demokratien basieren verstärkt auf dem Prinzip des Dialogs und der Diskussion. In diesem System verfügen BürgerInnen über die Möglichkeit, sich aktiv in politische Prozesse einzubringen, Meinungen vorzubringen und Entscheidungen gemeinsam zu erarbeiten. In der Theorie der deliberativen Demokratie ist die Mitwirkung der Bevölkerung von zentraler Bedeutung, da sie davon ausgeht, dass eine breite und vielfältige Beteiligung zu besser informierten Entscheidungen führt, die wiederum das Allgemeinwohl fördern und das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik stärken (Albrecht, 2014; Fung, 2005). Die Überzeugungskraft, welche dem Modell der deliberativen Demokratie innewohnt, fasst Albrecht (2014, S. 36) zusammen, indem er postuliert, dass «[i]n der internationalen Diskussion (…) die Theorie der deliberativen Demokratie heute als die am stärksten rezipierte und anerkannte Demokratie» gilt. Das deliberative Modell führt also zu einem direkteren Austausch zwischen den BürgerInnen und dem Staat. Habermas (2009, S. 12), einer der zentralen Begründer des deliberativen Demokratiemodells, sieht gar eine «Pointe der Demokratie im deliberativen Modus einer vernünftigen politischen Willensbildung und in inklusiver politischer Beteiligung». Im Hinblick auf die Abgrenzung des deliberativen Demokratiemodells zu anderen Demokratietheorien unterscheidet es sich von pluralistischen Demokratietheorien und lässt sich stattdessen den Theorien direkter Demokratie zuordnen, worin die Notwendigkeit einer grösstmöglichen politischen Teilhabe der BürgerInnen im Zentrum steht (Biegelbauer & Kapeller, 2017, S. 37f.). Im Gegensatz zu (existierenden) direktdemokratischen Modellen wohnen deliberativen Demokratien «hohe Anforderungen hinsichtlich der Qualität des Entscheidungsfindungsprozesses» inne und führen so zu «qualitativ hochwertige[n] demokratische[n] Entscheidungen» (Biegelbauer & Kapeller, 2017, S. 37).

Ein Aspekt der deliberativen Demokratie, welcher gemeinhin als besonders zentral für die Verbesserung der aktuellen Demokratieformen angesehen wird, ist die «Relevanz dialogorientierter Beteiligung zur Vertiefung der Demokratie und Mittel gegen aktuelle Krisenerscheinungen» (Remer, 2020, S. 10). Um wiederum eine grössere Partizipation der BürgerInnen zu gewährleisten, gibt es immer neue Beteiligungsformen, die als «Democratic Innovations» bezeichnet werden (Remer, 2020, S. 10). Unter Democratic Innovations werden neben Elementen der direkten Demokratie auch Co-Governance-Modelle und deliberative Formen der Beteiligung subsumiert. Ziel von Democratic Innovations ist es, die BürgerInnen stärker in politische Planungs- und Entscheidungsprozesse einzubeziehen und eine aktivere Rolle bei der Gestaltung und Umsetzung von politischen Prozessen einzunehmen (Remer, 2020, S. 10–11). Entsprechend fallen E-Partizipationsinstrumente ebenfalls unter die Beteiligungsform der Democratic Innovations.

3. E-Partizipationsinstrumente als Form der digitalen Mitwirkung

Bei der Partizipation im Kontext politischer Entscheidungsfindung lassen sich verschiedene Dimensionen voneinander unterscheiden, beispielsweise an wen die Partizipation gerichtet ist, von wem sie initiiert wird oder ob es sich um formelle oder informelle Partizipation2 handelt (Fischer et al., 2020; siehe auch Porwol et al., 2013). Für den vorliegenden Artikel wird die begriffliche Abgrenzung von Partizipation von Fischer et al. (2020, S. 131) angewendet, wonach «Partizipation im politischen Entscheidungsfindungsprozess» verstanden wird als «an die Behörden gerichtete, von der Verwaltung angestossene, informelle Bürgerbeteiligungsform». Ferner setzt sich der vorliegende Artikel mit einem Partizipations-Fallbeispiel auseinander, welches durch die politischen Entscheidungsträger initiiert wurde, was als Government-led Partizipation bezeichnet wird in Abgrenzung zur Citizen-led Partizipation, worunter Partizipationsverfahren verstanden werden, die durch die Bevölkerung initiiert werden (Fischer et al., 2021, S. 24).

Die Vereinten Nationen (UN) definieren E-Partizipation als Prozess, um BürgerInnen mittels Informations- und Kommunikationstechnologien in die Gestaltung von Politik und Entscheidungsfindung einzubeziehen, um eine partizipative, inklusive, kollaborative und deliberative öffentliche Verwaltung zu schaffen (United Nations, 2014, S. 61). Für den Einbezug der Bevölkerung gibt es verschiedene Abstufungen, die sich nach der Stärke des Beteiligungsgrades unterscheiden. E-Partizipation lässt sich in drei Stufen gliedern: Bei der Information werden Informationen auf Nachfrage bereitgestellt, wohingegen mit Konsultation das aktive Einholen verschiedener Perspektiven bezeichnet wird. Den stärksten Einbezug gibt es schliesslich durch die aktive Partizipation (bzw. Entscheidung), wobei die Bevölkerung «aktiv in den Entscheidungsprozess eingebunden [wird] und (…) ein Mitspracherecht bei den Entscheidungen» hat (Fischer et al., 2021, S. 25; Kubicek, 2010, S. 175; Kubicek & Aichholzer, 2016, S. 14; United Nations, 2023).

Die Digitalisierung hat zusätzlich zu den traditionellen analogen Beteiligungsmethoden digitale Partizipationsverfahren ermöglicht. Klassische Beispiele sind der Einsatz von Internetplattformen oder Online-Befragungen, mit deren Hilfe Meinungen, Ideen und Präferenzen der Bevölkerung eingeholt werden können (Fischer et al., 2021, S. 23).

Dass sich elektronische Partizipationsverfahren im Hinblick auf die Anwendung in der Praxis bei Kantonen und Gemeinden noch in einem anfänglichen Stadium befinden, wird durch die Studie der Schweizer Bundesstelle «Digitale Verwaltung Schweiz» aus dem Jahr 2022 deutlich. Demnach gaben zum Erhebungszeitpunkt im Jahr 2021 nur circa 6 % der 2596 Befragten an, elektronische Kanäle3 zur Mitwirkung an Politik und Verwaltung in der Wohngemeinde oder im Wohnkanton bereits benutzt zu haben, wohingegen rund 60 % zum Erhebungszeitraum noch nie einen elektronischen Kanal zur Partizipation benutzt hatten und auch keinen Bedarf dafür sahen (Buess et al., 2022. S. 26).4 Von den Befragten aus Gemeinden- und Kantonsbehörden gaben 12 % an, Mitwirkung an Politik und Verwaltung über einen elektronischen Kanal zu ermöglichen (Buess et al., 2022, S. 56). Es gibt folglich grosses Entwicklungspotenzial für E-Partizipationstools, sodass es nicht überrascht, dass in den vergangenen Jahren verschiedene Tools für E-Partizipation auf dem Schweizer Markt erschienen sind. Insbesondere der Möglichkeit algorithmusbasierter Technologien wird eine grosse «transformative Kraft» unterstellt (Tenney & Sieber, 2016, S. 101–102). Vieth et al. (2017) bestätigen diese Sichtweise: «In vielen Fällen können ADM-Systeme [Algorithmische Entscheidungssysteme] tatsächlich die bessere Lösung sein, da sie es ermöglichen, die Unstimmigkeiten und Verzerrungen zu vermeiden, die bei menschlichen Entscheidungen auftreten». Komplexe soziale Systeme haben jedoch auch oft die Eigenschaft, eine Eigendynamik zu entwickeln, die von den InitiatorInnen eines öffentlichen Diskurses nicht vorhergesehen und nicht gewollt war (Sterman, 2010, S. vii). Eine transformative Kraft wird sich deshalb nur entfalten können, wenn negative Auswirkungen der neuen Technologien zumindest stark reduziert werden. Lischka et al. (2017) bieten im Bereich der ADM eine Übersicht über nötige Massnahmen anhand von neun Fallstudien. Diese umfassen (i) Sicherstellung der Falsifizierbarkeit, (ii) Sicherstellung der ordnungsgemässen Verwendung, (iii) Identifizierung eines geeigneten Logikmodell für soziale Auswirkungen, (iv) Konzepte angemessen messbar machen, (v) umfassende Evaluierung sicherstellen, (vi) Vielfalt der ADM-Prozesse sicherstellen, (vii) Überprüfbarkeit erleichtern, (viii) soziale Interdependenzen berücksichtigen und (ix) Missbrauch verhindern. Aus Sicht der Autoren gibt es hier noch keine akzeptierten Standards, sodass dies ein offenes Feld für zukünftige Forschung ist.

3.1. Algorithmusbasierte Partizipationsinstrumente

Algorithmen sind Verfahren, die auf einer sprachlichen oder formalisierten Ebene festlegen, wie man von einer Eingabe (Input) zu einer Ausgabe (Output) gelangt (Ebbinghaus et al., 1992, S. 161; Spector, 1959, S. 2). Ein einfaches Beispiel für einen Algorithmus ist das Rechenschema für die schriftliche Addition zweier natürlicher Zahlen.5 Im Fall der algorithmusbasierten E-Partizipation gibt es zwar viele verschiedene Ansätze,6 jedoch bislang noch keine allgemein akzeptierte Klassifikation. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den algorithmusbasierten E-Partizipationsinstrumenten liegt darin, ob sämtliche durch die TeilnehmerInnen eingegebenen Lösungsvorschläge, welche nachfolgend als Ideen bezeichnet werden, bekannt gegeben werden,7 oder ob die Ideen ohne Kenntnis aller gesammelten Ideen bewertet werden. Eine Möglichkeit zur Bewertung der Ideen ergibt sich durch wiederholte Beurteilung von jeweils zwei zufällig ausgewählten Ideen durch die TeilnehmerInnen und die auf den Paarvergleichen basierende Berechnung der Rangfolge der Ideen. Die auf einer Paarauswahl basierenden Algorithmen ermöglichen, dass die Gesamtheit aller Ideen nicht von vornherein bekannt gegeben werden muss. Dies schafft den Anreiz, selbst neue Lösungen zu entwickeln, da nicht irrtümlich suggeriert wird, dass alle Möglichkeiten bereits bekannt sind. Im Folgenden beschränken wir uns auf Beteiligungsinstrumente, die auf Paarauswahl basieren. Das Vorgehen ist hier wie folgt:8 Jede/r BenutzerIn bekommt immer genau zwei Ideenvorschläge vorgestellt und muss dann entscheiden, welchen er oder sie ‘besser’ findet. Eine anonymisierte Bewertung stellt hierbei sicher, dass die Beurteilungen unabhängig sind, um so eine Verzerrung (engl. bias) in der Bewertung zu verhindern. Auf diese Weise können bei einer Gesamtzahl von n Ideenvorschlägen insgesamt n(n-1)/2 unterschiedliche Paare gebildet werden, die den TeilnehmerInnen zur Bewertung vorgelegt werden. In den paarweisen Vergleichen spiegeln sich die Präferenzen der TeilnehmerInnen wider, sodass mit statistischen Verfahren eine Rangfolge der Ideenvorschläge auf Basis der durchgeführten Paarvergleiche berechnet werden kann. Dabei kommen auf mehreren Ebenen Algorithmen zum Einsatz:

  • Die Auswahl zweier Ideen für den nächsten Paarvergleich:

    • – Dieser Algorithmus zur dynamischen Paarauswahl muss sicherstellen, dass später eingebrachte Ideen erhöhte Wahrscheinlichkeiten haben, den TeilnehmerInnen in einer Paarauswahl vorgeschlagen zu werden, um die späte Eingabe auszugleichen und eine gleichmässige Bewertung sicherzustellen.

  • Ein Algorithmus für die Berechnung der Rangfolge und deren Unsicherheiten:

    • – Die Grundidee der statistischen Rekonstruktion der Rangfolge auf Basis von beobachteten Paarvergleichen basiert auf den Arbeiten von Thurstone (1927) und Zermelo (1929). Diese wurden durch Bradley et al. (1952) und Luce (1994) auf Basis statistischer Modelle weiterentwickelt. In dem nun entwickelten Algorithmus zur Berechnung der Rangfolge kommen Bayes’sche Methoden zum Einsatz, die auf Basis der durchgeführten Paarvergleiche den Nutzen der Ideen statistisch berechnen und gleichzeitig eine Abschätzung der Schwankungsbreite des Nutzens liefern.9 Die Bayes’sche Methode berechnet für jede Idee jeweils 1000 wahrscheinliche Werte für den Nutzen, welcher die statistische Unsicherheit des rekonstruierten Nutzens durch eine Verteilung an Werten ausdrückt. Die Ideen werden gemäss ihrem Zentralwert in eine Rangfolge gebracht. Die Gültigkeit der statistischen Rekonstruktion ist unabhängig davon, wie oft über die einzelnen Ideen abgestimmt wurde, d.h. Ideen mit weniger Abstimmungen werden nicht benachteiligt. Ausserdem wird berücksichtigt, ob eine Idee gegen bessere oder schlechtere Ideen im Paarvergleich angetreten ist und bewertet wurde.10

  • Algorithmen zur Erkennung von Manipulationen, wie z.B. Bewertungen durch Bots:

    • – Da potenzielle Manipulationsversuche alle Partizipationsinstrumente betreffen, wird dieser Punkt in diesem Artikel nicht näher erläutert.

Im Folgenden wird sich auf eine beschreibende Methodik beschränkt – eine Analyse auf Basis von Simulationen, die aufzeigt, wie die zurückgespiegelten Ideen, die den TeilnehmerInnen unmittelbar zur Bewertung weitergegeben werden, weitere Gedankenprozesse auslösen und so zu neuen Ideen bzw. Innovationen führen – wird nicht durchgeführt.

3.2. Partizipationsinstrument BrainE4

Im Rahmen eines Innosuisse Projektes11 hat die BrainE4 AG in Kooperation mit MathematikerInnen und SozialwissenschaftlerInnen eine Plattform entwickelt, welche eine neue Form der E-Partizipation ermöglicht. Im Kern geht es um eine Plattform zur automatisierten Ideenfindung und Ideenbeurteilung: Durch einen iterativen Prozess aus Ideenfindung und Ideenbeurteilung kann die Beantwortung einer typischerweise komplexen Fragestellung erreicht werden, die meist vorab in Gemeinden- oder Kantonsbehörden festgelegt wird. Zu einer Fragestellung werden einige initiale Ideen definiert, die den TeilnehmerInnen zum Start des E-Partizipationsprozesses zur Bewertung in Paarvergleichen vorgelegt werden können. Die Frage sowie die initialen Ideen werden nun einem durch die Gemeinden- oder Kantonsbehörden definierten Teilnehmerkreis vorgelegt, der dann (i) kontinuierlich weitere neue Ideen unterbreiten kann und parallel (ii) kontinuierlich alle, also auch die neuen Ideen in Paarvergleichen bewerten kann. Konkret werden jedem/jeder TeilnehmerIn auf Basis der dynamischen Paarauswahl zwei Ideen unterbreitet; der/die TeilnehmerIn muss dann den präferierten Vorschlag auswählen. Dieses Vorgehen wird nun von jedem/jeder TeilnehmerIn wiederholt, bis keine neuen Paare zur Verfügung stehen. Auf Basis der Präferenzen der Teilnehmer, die sich in den Entscheidungen der durchgeführten Paarvergleiche spiegelt, wird die Rangfolge der Ideen rekonstruiert. Neben der Auseinandersetzung mit den Algorithmen wurde durch eine Prozessbegleitung sichergestellt, dass Konzeption und Durchführung des E-Partizipationsprozesses sowie die Analyse der Ergebnisse in Übereinstimmung mit wissenschaftlichen Standards erfolgt.

4. Fallstudie «Lenzburger Wald»

Um die Funktionsweise und die Möglichkeiten des E-Partizipationsinstruments zu veranschaulichen, wird nachfolgend ein konkreter Anwendungsfall aus dem öffentlichen Sektor, welcher im Rahmen des Innosuisse-Projektes durchgeführt wurde, vorgestellt.

4.1. Ausgangslage

Bei dem Anwendungsfall «Freizeitnutzung im Wald Lenzburg» war die Stadt Lenzburg daran interessiert, herauszufinden, was sich die Bevölkerung für die Nutzung des Lenzburger Waldes wünscht. Hintergrund des E-Partizipationsprozesses ist ein generell steigender Bedarf an Freizeitnutzung des Lenzburger Waldes. Dabei haben sich unterschiedliche Nutzungsarten gezeigt, die teilweise gegensätzliche oder gar unvereinbare Bedürfnisse der NutzerInnen des Waldes bedienen. Ein konkretes Beispiel stellen «Bike Trails» dar: Diese wurden vermehrt genutzt, wenngleich sie offiziell jedoch verboten sind. Gleichzeitig wurde seitens EinwohnerInnen der Wunsch nach Verteilung von Bussen durch die Polizei an die Biker geäussert. Dieses Beispiel der «Bike Trails» zeigt die mitunter gegensätzlichen Bedürfnisse verschiedener Waldnutzenden.

4.2. Zielsetzung und Zielgruppen des E-Partizipationsprozesses

Aufgrund des gesteigerten Bedarfs und der Vielfalt an Bedürfnissen wollte die Stadt Lenzburg die Bedürfnisse der NutzerInnen des Lenzburger Waldes zum Thema «Freizeitnutzung im Wald Lenzburg» abholen.

Das Ziel des E-Partizipationsprozess bestand darin, die Wünsche und Bedürfnisse der Bevölkerung zu sondieren und als Eingangspforte für neue Ideen zur Freizeitnutzung im Lenzburger Wald zu fungieren. Ferner ging es darum, den Einbezug von Interessengruppen betreffend Naturschutz und ökologische Aufwertung zu ermöglichen. Zu den Zielgruppen des E-Partizipationsprozesses zählten aktuelle NutzerInnen des Lenzburger Waldes, OrtsbürgerInnen, Freizeitvereine (z.B. PfadfinderInnen, Turnverein), BikerInnen oder JägerInnen sowie die Öffentlichkeit von Lenzburg und angrenzenden Gemeinden.

4.3. Vorgehen und Mitwirkungsfragen

Der E-Partizipationsprozess wurde für die Dauer von einem Monat im Juni und Juli 2022 in Lenzburg durchgeführt. Die Bevölkerung wurde mittels acht im Wald aufgehängten Plakaten zur Teilnahme am E-Partizipationsprozess eingeladen. Darüber hinaus wurden ausgewählte lokale Vereine (Jagdgesellschaft, Bikeverein, örtl. Natur und Vogelschutzverein und der Orientierungs-laufverein) informiert. Als Besitzer des Waldes wurden auch die OrtsbürgerInnengemeindeversammlung informiert. Insgesamt wurden drei Fragen zu den drei Dimensionen Infrastruktur, Bedürfnisse und Aktivitäten gestellt – siehe Tabelle 1.

Tabelle 1

Übersicht über die drei Partizipationsprozesse.

FALL (STICHWORT)FRAGE
1 (Infrastruktur)Welche Infrastrukturen sind / wären dir im Lenzburger Wald wichtig?
2 (Bedürfnisse)Was erwartest du vom Lenzburger Wald (heute und morgen)?
3 (Aktivitäten)Welche Freizeitaktivitäten suchst du im Lenzburger Wald?

Zu jeder dieser Fragen wurde vor Beginn des E-Partizipationsprozesses durch die InitiatorInnen fünf Antworten (sogenannte initialen Ideen) festgelegt, welche die Mitwirkung am E-Partizipationsprozess auch zu Beginn, ohne Eingabe neuer Ideen, gewährleisten. Im vorliegenden Artikel wird jedoch nur eine der drei Fragen, diejenige nach den Freizeitaktivitäten, diskutiert. Konkret lautete die Frage «Welche Freizeitaktivitäten suchst du im Lenzburger Wald?».12 Zu dieser Frage wurden die folgenden fünf initialen Ideen eingegeben: 1) Laufen, joggen, 2) Picknick / grillieren, 3) Vögel beobachten, 4) Meditieren, 5) Spazieren gehen.

4.4. Ergebnisse

Insgesamt registrierten sich für die drei Partizipationsprozess 291 Personen, sogenannte TeilnehmerInnen,13 um am E-Partizipationsprozess teilzunehmen. Wie aus Abbildung 1 ersichtlich ist, war es möglich, alle Altersklassen in den neuen E-Partizipationsprozess einzubeziehen.

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Abbildung 1

Verteilung der TeilnehmerInnen nach Alter (nach eigenen Angaben). Angaben in absoluten Zahlen. Von 134 TeilnehmerInnen gibt es keine Angabe zum Alter, was in der Abbildung als Balken links der Null dargestellt ist. Laut eigenen Angaben kann also davon ausgegangen werden, dass alle Altersgruppen vertreten sind.

In Summe wurden über alle Partizipationsprozesse zusätzlich zu den 15 bestehenden initialen Ideen 213 neue Ideen durch die TeilnehmerInnen eingegeben und bewertet. Nach entfernen der Duplikate,14 d.h. die bereits in einem anderen Wortlaut existierenden Ideen, blieben 89 neuartige Ideen übrig. Dies deutet darauf hin, wie hoch die Kreativität15 und der Wille der Bevölkerung zur Beteiligung an solchen Prozessen ist. Insgesamt wurde im Verlauf des E-Partizipationsprozesses in 8810 Paarvergleichen über Ideen abgestimmt.16 Wie man Abbildung 2 entnehmen kann, wurde über einen Zeitraum von circa 30 Tagen kontinuierlich abgestimmt (schwarze Kurve), darüber hinaus wurden in diesem Zeitraum parallel auch kontinuierlich neue Ideen eingegeben (rote Kurve).

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Abbildung 2

Anzahl Abstimmungen nach Zeit. Kumulierte Anzahl Abstimmungen nach Zeit (schwarz) und kumulierte Anzahl von Ideen (rot) für Fall 3 (Aktivitäten). Es wird der gesamte Zeitraum des E-Partizipationsprozesses gezeigt. Zum einen zeigt sich eine hohe Aktivität der Ideeneingabe über den gesamten E-Partizipationsprozess. Zum anderen wird parallel über den gesamten Zeitraum auch abgestimmt, sodass viele TeilnehmerInnen eingebunden werden können. Siehe auch Abbildung 3.

Abbildung 3 zeigt, wie häufig sich einzelne TeilnehmerInnen beteiligt haben. Ein 100-maliges Abstimmen erfordert durchaus eine hohe Konsequenz und Motivation, sodass die ersten zwei TeilnehmerInnen als hoch aktiv eingestuft werden können. Dies zeigt sich auch in deren kumulierten Anteil von guten 10% aller Abstimmungen.

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Abbildung 3

Balkendiagramm «Anzahl Abstimmungen pro TeilnehmerIn (absteigend sortiert)» für Fall 3 (Aktivitäten) sowie kumulierter Anteil (rote Kurve). Jeder Balken steht somit für die Anzahl an Abstimmungen eines TeilnehmerIn. Der/die Teilnehmer/in mit den meisten Abstimmungen hat einen Anteil von ca. 10% (rote Kurve) mit 170 Abstimmungen (erster Balken). Auffällig ist der „lange Schwanz“ mit vielen TeilnehmerInnen, die relativ wenig Abstimmungen durchgeführt haben (siehe Abbildung 4).

Ebenfalls ersichtlich ist, dass viele Personen der Bevölkerung mit E-Partizpation erreicht werden, wobei die Mehrheit (ca. 80%) der TeilnehmerInnen sich mit weniger als 25 Paarvergleichen beteiligen. Im Gegensatz zu Umfragen mit fest vorgegebenem Umfang ist bemerkenswert, dass sich hier auch TeilnehmerInnen einbringen, die sich weniger stark beteiligen möchten und dabei aber insgesamt die Hälfte aller Abstimmungen beitragen. Mit Hilfe des zugrunde liegenden Algorithmus wurden die Bewertungen auf Basis aller Paarvergleiche in eine Rangfolge gebracht. In Abbildung 4 wird die durch den Algorithmus berechnete Rangfolge in Einheiten ihres Nutzens graphisch dargestellt: Der schwarze Balken entspricht dem Median-Nutzen der Nutzen innerhalb einer Idee, der grüne Balken entspricht dem Quartilsabstand, d.h. dem Bereich zwischen 25%- und 75%-Quantil.

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Abbildung 4

Ideen-Rangfolge für Fall 3 (Aktivitäten). Für jede Idee wird der Nutzen wie folgt dargestellt: Der schwarze Strich entspricht dem Median aus 1000 gesampelten Nutzen, der grüne Balken dem Bereich zwischen 25%- und 75%-Quantil. Auf diese Weise wird ersichtlich, dass Idee 53 am besten gewertet wird.

Aus Abbildung 4 ist ersichtlich, dass die Nutzen pro Idee unterschiedlich stark streuen, was darauf zurückzuführen ist, dass die Ergebnisse aus den Paarvergleichen nicht einstimmig sind. Das heisst, dass auch die beste Idee bei einigen TeilnehmerInnen gegen andere Ideen verliert. Es zeigt sich ausserdem, dass es z.B. sehr unwahrscheinlich ist, dass Idee Nr. 53 (Platz 1) gegen Idee Nr. 11 (Platz 6) verliert. Hier zeigt sich, dass die fünf initialen Ideen (per Definition alle Ideen mit einer ID 1 – 5) schwach in den Top-Ten Ideen vertreten sind. Dies deutet auf ein hohes Mass an Innovationskraft des Tools hin. Tabelle 2 zeigt auf, wie viele der initialen Ideen in den Top-Ten des finalen Ideen-Rankings sind. Die Werte schwanken zwischen 2 (Fall 2) und 4 (Fall 3). Die vorletzte Spalte gibt an, welche Platzierung die initialen Ideen eingenommen haben.

Tabelle 2

Platzierung der initialen Ideen. Es werden die Identifikations nummern (ID) der Ideen aufgeführt. Per Konstruktion haben die initialen Ideen ID Nr. 1 – 5, die der neuen Ideen haben alle eine ID Nr. > 5.

FALLANZAHL INITIALE IDEEN IN DEN TOP-TENPLATZIERUNGEN DER INITIALEN IDEENANZAHL AKTIVE TEILNEHMENDE
1 (Infrastruktur)37, 8 und 10206
2 (Bedürfnisse)22 und 10169
3 (Aktivitäten)33, 8 und 9179

In Tabelle 3 ist zusammengefasst, welcher Text konkret hinter den Ideen steht und was sich hier für Erkenntnisse sowie Herausforderungen ergeben – die oben bereits erwähnte Idee 11 («Spazieren und Biken») ist sogleich ein Beispiel «für nicht eindeutige Ideen», da es sich um eine mehrdimensionale Idee handelt, mit einer Kombination aus zwei Dimensionen: (1) Spazieren und (2) Biken.

Tabelle 3

Ideenrangfolge der ersten 10 Ideen («Top-Ten») für Frage 3 «Aktivitäten».

RANGIDBESCHREIBUNG DER IDEEDUPLIKATEGEWONNENVERLOREN
153Natur beobachten, Natur sein lassen07342
219Wanderungen4280179
35Spazieren gehen (initiale Idee)2218141
525Spazieren, den Wald beobachten, Waldhütten bauen0176138
424Sanfte Nutzung, kein Park. Sehr wenig Infrastruktur und punktuell. 4–5 Brötelplätze. Ein umgefallener Baum ist der bessere Bänkli1228175
611Spazieren, Biken0198156
76Ruhe und Erholung (initiale Idee)4240193
82Picknick / grillieren (initiale Idee)2237208
91Laufen, joggen (initiale Idee)6228216
1046Abkühlung im/am Aabach077

Diejenige Idee, welche die grösste Unterstützung der Teilnehmenden am E-Partizipationsprozess erhielt, war «Natur beobachten und Natur Natur sein lassen», gefolgt von «Wanderungen». Auf dem dritten Platz folgt das «Spazieren gehen», was gleichzeitig eine initiale Idee darstellt. Die Ideen auf den Plätzen 4 und 6 weisen auf ein aktuelles Problem des Tools hin, das derzeit ein menschliches Eingreifen erfordert: Es bedarf einer Regelung, wie mit Ideen umgegangen werden soll, die entweder nicht eindeutig formuliert sind (Platz 4) oder die mehr als eine Idee beinhaltet, also mehrdimensional sind (Platz 6). Eine Möglichkeit ist, jeweils nur die erste Idee zu verwenden.

5. Zusammenfassung und Ausblick

Die Ergebnisse zeigen ein hohes Engagement der Bevölkerung im Partizipationsprozess und eine relativ hohe Anzahl neuer Ideen in der Rangliste der zehn am besten bewerteten Ideen.

Insgesamt erfordert die Handhabung des Tools sowie die Interpretation der Ergebnisse zum gegenwärtigen Zeitpunkt menschliches Zutun. So müssen aktuell identische oder ähnliche Ideen manuell als Duplikate gekennzeichnet und zusammengeführt werden, um eine ausgeglichene Abstimmung und ein effizientes Funktionieren des Algorithmus sicherzustellen – eine Automatisierung dieser Prozesse ist jedoch bereits in technischer Planung. Auch der Umgang mit mehrdimensionalen Ideen ist ein Bereich, der bei der vorgestellten Fallstudie noch Verbesserungspotenzial bereithält. Am Beispiel der Fallstudie Lenzburger Wald lässt sich die inhaltliche Interpretation der Ergebnisse veranschaulichen: So zeigt sich über die drei separaten Fragen hinweg, dass Naturschutz und ökologische Aufwertung entgegen der Einschätzung der ExpertInnen / InitiatorInnen bei den Teilnehmenden einen hohen Stellenwert zu haben scheinen. Bei der Durchführung des Dialogs fiel auf, dass Antworten auf Fragen gekommen sind, die nicht gestellt wurden: So wurde beispielsweise konkret nach der Freizeitnutzung gefragt, es wurde jedoch teilweise in Bezug auf die Holznutzung / Bewirtschaftung geantwortet. In diesem Bereich kann es aufgrund klarer Besitzverhältnisse jedoch nur schwer einen partizipativen Prozess geben, sodass sich hier die Frage stellt, wie man mit solchen Situationen in Zukunft umgeht – diese Antworten können ja gerade deshalb einen sehr hohen Innovationsgehalt haben.

Ziel der Studie war es, anhand einer Fallstudie aus dem öffentlichen Sektor die Möglichkeiten und Grenzen einer neuen Form der E-Partizipation zu untersuchen. Die Fallstudie zeigte, dass die Anwendung eines E-Partizipations-Tools Potential birgt, eine niederschwellige Mitwirkung der Bevölkerung bei politischen Vorhaben zu ermöglichen. Der zugrundeliegende Algorithmus ermöglicht zudem eine unmittelbare Priorisierung von eingehenden Ideen sowie die Rückspeisung dieser Ideen in die Abstimmungen, was durch klassische analoge Partizipationsinstrumente oder Umfragen nicht möglich ist. Nichtsdestotrotz erfordert die technische Unterstützung der digitalen Partizipation durch ein Partizipationsinstrument noch menschliche Unterstützung.

Für die zukünftige Forschung ergeben sich sowohl für den Algorithmus als auch die sozialwissenschaftliche Implementierung spannende Forschungsfragen: So könnte zum einen mittels experimenteller Forschungsdesigns der Nutzen der eigegebenen Ideen und derjenigen Ideen, die gewonnen haben, systematisch untersucht werden, um die Frage zu beantworten, ob E-Partizipationsinstrumente zu besseren Entscheidungen führen als solche mit herkömmlichen und analogen Partizipationsinstrumenten. Zum anderen kann eine vertiefte statistische Analyse des Algorithmus und der Ergebnisse Erkenntnisse über die Möglichkeiten respektive Grenzen von Manipulationsversuchen liefern. Weitere Anwendungsbereiche für die Forschung bestehen zudem in der Einbindung valider Sprachmodelle wie beispielsweise GPT-4 zur Unterstützung oder vollständigen Übernahme der Moderationsrolle. Ein weiteres zukünftiges Anwendungsgebiet besteht darin, die Nutzung von Schwarmintelligenz im Rahmen von E-Partizipationsprozessen zu analysieren und zu erklären.

Auch für die Praxis ergeben sich aus der Fallstudie einige Schlussfolgerungen: So hat die Fallstudie gezeigt, dass seitens Bevölkerung durchaus der Bedarf an E-Partizipationsinstrumenten besteht. E-Partizipationsinstrumente ermöglichen es der Bevölkerung, sich bequem und flexibel in den politischen Prozess einzubringen. Für die öffentliche Institution, welche den Online-Dialog durchführt, können online-Partizipationsplattformen dazu beitragen, den Verwaltungsaufwand für Beteiligungsverfahren zu reduzieren. Wichtig scheint es aktuell, sich vertieft mit dem E-Partizipationsinstrument auseinanderzusetzen oder eine Prozessbegleitung in Anspruch zu nehmen, um eine einwandfreie Durchführung und eindeutige Ergebnisse zu gewährleisten (beispielsweise im Hinblick auf die Zusammenführung von Ideen). E-Partizipationsinstrumente können Verwaltungen und öffentlichen Einheiten dabei helfen, im Rahmen der informellen Partizipation eine breitere Spannbreite von Meinungen und Perspektiven der gesamten Bevölkerung einzufangen.

Notes

[1] Einen Überblick über verschiedene Definitionen von E-Partizipation geben Wirtz et al. (2018).

[2] Formelle Formen der Partizipation meint die Beteiligung an Wahlen oder Abstimmungen (Fischer et al., 2020, 2021). Diese Verfahren erfordern die Einbindung Dritter in Entscheidungsprozesse gemäss gesetzlichen Vorgaben. Im Gegensatz dazu bezeichnet informelle Beteiligung Situationen ohne klare gesetzliche Vorschriften (Enke & Reinhardt, 2015, S. 65).

[3] Diese umfassten Internet, E-Mail, Umfragen, Social Media, Software für E-Mitwirkung, Apps sowie weitere elektronische Angebote.

[4] Rund ein Viertel Befragten gaben an, noch nie einen elektronischen Kanal verwendet zu haben, dies jedoch gerne tun würden. Die verbleibenden 10% der Antworten setzen sich aus den Antwortkategorien «weiss nicht» und «keine Antwort» zusammen (Buess et al., 2022. S. 26).

[5] Dieses Verfahren reduziert die Berechnung auf die Addition zweier Zahlen zwischen 0 – 9:

12+234236

[6] Dieser Artikel kann hier keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder eine wissenschaftlich fundierte Systematik erheben. Einige Schweizer Beispiele wären hier www.braine4.com (siehe Abschnitt 3.2), www.decidim.org, www.e-mitwirkung.ch, und www.meinthurgau.ch.

[7] In vielen Anwendungen wird in diesem Fall mit up- und down-votes gearbeitet. Dieses Verfahren wird aufgrund seiner Einfachheit häufig in Kommentarspalten diverser Online-Medien wie z.B. www.spiegel.de oder www.faz.net verwendet.

[8] Die Möglichkeit, neue Ideen einzugeben ändert nichts am Prinzip und wird deshalb nicht berücksichtigt.

[9] Nutzen ist ein Begriff bzw. Konzept aus der Mikroökonomie, der eine Eigenschaft eines Gutes (Ware oder Dienstleistung im weitesten Sinne) ist und als Mass für die Bedürfnisbefriedigung dient. Güter mit höherem Nutzen stiften eine höhere Bedürfnisbefriedigung und haben damit einen höheren Wert. Der Nutzen dient somit als Masszahl für die Präferenzen eines Konsumenten. Üblicherweise wird der Nutzen in einer willkürlich festgelegten monetären Einheit ausgedrückt. Der Nutzen der Lösungsvorschläge ist stets positiv und wird so normiert, dass die Summe aller Lösungsvorschläge gleich 1 ist (für eine Definition des wirtschaftswissenschaftlichen Begriffs Nutzen, siehe Springer-Gabler, 2013; Varian, 2016).

[10] Zur Veranschaulichung wird angenommen, «Idee 1» spielt gegen «Idee 2»: Es macht dann einen Unterschied, ob «Idee 2» eine Idee ist, die fast immer gewinnt, oder «Idee 2» fast immer verliert. Dieser Unterschied wird durch den Algorithmus berücksichtigt.

[11] Projektnummer 57442.1 IP-SBM, «Beyond Public Management» – E-Partizipation auf Basis kollektiver Intelligenz. https://www.aramis.admin.ch/Grunddaten/?ProjectID=49893.

[12] Diese Frage wurde zum einen ausgewählt, weil die Ergebnisse zeigen, dass sie durch die Teilnehmenden am einheitlichsten verstanden wurde. Zum anderen erlauben die eingegebenen Ideen zu dieser Frage eine anschauliche Diskussion der Möglichkeiten und Grenzen des Tools.

[13] Da den Teilnehmenden Anonymität zugesichert wurde, wurde diesen eine abstrakte ID zugeordnet. Theoretisch könnte sich ein/e TeilnehmerIn also mehrfach anmelden. Da der/die TeilnehmerIn jedoch keinen Einfluss auf die Reihenfolge der gezeigten Paare hat, ist das Missbrauchspotenzial gering.

[14] Da die TeilnehmerInnen (absichtlich, wie oben erläutert) immer nur ein Paar von Ideen bewerten können, kann das systematische Auftreten von Duplikaten nicht verhindert werden.

[15] Mit 291 TeilnehmerInnen und 89 neuen Ideen erhält man im Schnitt eine neue Idee auf jeden dritten TeilnehmerIn, was als hoch eingestuft werden kann.

[16] 2711 Mal wurde eine Bewertung übersprungen und hat so keinen Einfluss auf die Rangfolge genommen.

Funding Information

Die Arbeiten an diesem durch Artikel wurden durch das Innosuisse-Projekt «Beyond Public Management» – E-Partizipation auf Basis kollektiver Intelligenz», Projektnummer 57442.1 IP-SBM (https://www.aramis.admin.ch/Grunddaten/?ProjectID=49893) unterstützt.

Competing Interests

Die Studie wurde im Rahmen des Innosuisse-Projekts «Beyond Public Management» – E-Partizipation auf Basis kollektiver Intelligenz», Projektnummer 57442.1 IP-SBM https://www.aramis.admin.ch/Grunddaten/?ProjectID=49893, in Zusammenarbeit mit BrainE4 erstellt. Im Rahmen dieses Projektes wurde auch der Algorithmus für das hierin vorgestellte Instrument entwickelt.

DOI: https://doi.org/10.5334/ssas.193 | Journal eISSN: 2632-9255
Language: English
Submitted on: Aug 29, 2023
Accepted on: Nov 2, 2023
Published on: Nov 28, 2023
Published by: Ubiquity Press
In partnership with: Paradigm Publishing Services
Publication frequency: 1 issue per year

© 2023 Lyn Ellen Pleger, Christoph Strauss, Alexander Mertes, Lin Himmelmann, published by Ubiquity Press
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