Have a personal or library account? Click to login
Bürokratie im Wandel der Worte: Verwendung des Bürokratie-Begriffs in parlamentarischen Debatten (1950–2023) Cover

Bürokratie im Wandel der Worte: Verwendung des Bürokratie-Begriffs in parlamentarischen Debatten (1950–2023)

Open Access
|Dec 2025

Full Article

1. Einleitung

Die Verwendung und Bedeutung des Begriffs «Bürokratie» im politischen Diskurs haben sich im Verlauf der Zeit stark verändert. So kommt dem Begriff in heutigen politischen Debatten kaum mehr die ursprüngliche soziologische Bedeutung einer idealtypischen Form legaler und rationaler Herrschaft (Weber, 1922) zu. Vielmehr hat sich der Begriff zu einem eher negativ konnotierten Synonym für den Verwaltungsapparat entwickelt.

Eine Analyse des Wandels des politisch verwendeten Vokabulars ist geeignet, neben den Veränderungen des eigentlichen politischen Diskurses auch wesentliche historische Entwicklungen nachzuzeichnen. Hinsichtlich des Begriffs der Bürokratie bezieht sich dies im vorliegenden Beitrag gar auf den Kern der Staatsorganisation: Es geht um das Bild, das in den parlamentarischen Debatten von der staatlichen Verwaltung gezeichnet wird, und die Frage, wie sich Veränderungen dieses Bildes in verwaltungshistorische Entwicklungen einbetten lassen.

Der vorliegende Beitrag blickt aus einer für die historische und verwaltungswissenschaftliche Forschung ungewöhnlichen Perspektive auf die Entwicklung des parlamentarischen Diskurses über die Schweizer Verwaltung seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Im Zentrum steht die semantische und symbolische Produktion von Verwaltung durch politische Sprache (Scharpf, 2009) – im vorliegenden Fall die Sprache der Parlamentsmitglieder. Es soll nachgezeichnet werden, wie im Schweizer Parlament seit 1950 über den Themenbereich «Bürokratie» bzw. «Verwaltung» diskutiert worden ist. Dazu werden die vollständigen Wortprotokolle sämtlicher National- und Ständeratsdebatten mit Hilfe eines auf einem Large Language Model (LLM) basierten Verfahrens analysiert (für methodische Details vgl. Abschnitt 3). Dieses gibt nicht nur darüber Auskunft, wann und wie oft der genannte Themenbereich angesprochen wurde, sondern auch von wem. Darüber hinaus wird mittels Sentiment-Analyse untersucht, ob die entsprechenden Äusserungen eher positiv oder negativ konnotiert sind.

Der Beitrag betritt somit in methodischer als auch in inhaltlicher Hinsicht Neuland und leistet einen wesentlichen Beitrag für die schweizerische Verwaltungs- und Politikwissenschaft: (1) Die (verwaltungs-)historische Fragestellung wird nicht mit den in der Geschichtswissenschaft üblichen qualitativen Ansätzen, sondern mit einem datenbasierten, quantitativen Ansatz angegangen. (2) Der untersuchte Datenbestand wurde erstmals mithilfe eines LLM-Verfahrens analysiert. (3) Die Herangehensweise erfolgt primär explorativ; das primäre Interesse richtet sich auf das Nachzeichnen der Verwendung des Bürokratiebegriffs bzw. des Bildes der Verwaltung aufgrund von im Parlament stattfindenden öffentlichen Debatten. Die Analyse trägt damit dazu bei, die offenkundige Lücke einer Darstellung der Entwicklung und Geschichte der schweizerischen Bundesverwaltung seit dem Zweiten Weltkrieg (Bösiger, 2010) zumindest ansatzweise zu schliessen.

In methodischer Hinsicht reiht sich die Studie in das wachsende Feld der “Text-as-Data”-Forschung in der Politikwissenschaft ein, das Parlamentsprotokolle, Gesetzestexte und andere politische Dokumente systematisch mit computerassistierten Verfahren analysiert (vgl. Grimmer & Stewart, 2013; Wilkerson & Casas, 2017; Grimmer et al., 2021). Jüngere Entwicklungen in diesem Bereich nutzen zunehmend Natural Language Processing (NLP) und LLM-Ansätze, um semantische und inhaltliche Muster in grossen Textbeständen zu identifizieren (Chatsiou & Mikhaylov, 2020; Laurer et al., 2024). Der vorliegende Beitrag wendet solche Verfahren erstmals auf die Sicht der Schweizer Politik auf die Verwaltung an und leistet damit einen spezifischen Beitrag zur verwaltungswissenschaftlichen Textanalyse, indem er nicht die Verwaltung selbst, sondern deren Wahrnehmung und Zuschreibung im parlamentarischen Diskurs untersucht.

Im folgenden Abschnitt wird zunächst der Rahmen, innerhalb dessen die Analysen durchgeführt werden, abgesteckt. Darauf basierend werden Forschungsfragen sowie einige generelle Erwartungen bezüglich des Wandels des parlamentarischen Diskurses zur Verwaltung bzw. Bürokratie seit den 1950er-Jahren formuliert. Im Abschnitt 3 werden die Datengrundlage sowie die angewandten Analyseverfahren beschrieben. Darauf folgt im Abschnitt 4 die Präsentation der Forschungsresultate. Der Beitrag schliesst mit einer Diskussion der Ergebnisse sowie Hinweisen dazu, wie die verwaltungswissenschaftliche Forschung in Zukunft diesen Datenbestand und die hier angewandten Analyseinstrumente weiter nutzen könnte.

2. Hintergrund und Forschungsfragen

In der Regel orientiert sich die verwaltungswissenschaftliche Forschung in der Schweiz an normativen, rechts- oder betriebswirtschaftlichen Ansätzen. Der vorliegende Betrag lehnt sich hingegen an die historisch orientierte Verwaltungswissenschaft an, die auf diachrone und kontextuelle Analysen setzt, um Wandel, Kontinuitäten und Pfadabhängigkeiten in Verwaltungssystemen zu identifizieren (Pollitt, 2008). Dieser Zugang eröffnet gerade hinsichtlich der Reformdiskussionen – z.B. der Wandel hin zum New Public Management (NPM) oder zum Governance-Modell – neue Einsichten.

Weiter ist auch das Verhältnis zwischen Politik und Verwaltung ein zentraler Untersuchungsgegenstand der verwaltungswissenschaftlichen Forschung. So stellen etwa Schedler & Eicher (2013) fest, dass das Verhältnis der «Politik» (Parlament) zur Verwaltung kein dichotomisches sei, sondern dass «dem Verhältnis von Verwaltung und Politik in westlichen Ländern meistens ein gewisses Mass an Komplementarität zugrunde liegt und sich Verwaltung und Politik als ergänzende Elemente gegenseitig unterstützen» (Schedler & Eicher, 2013, S. 376). Gleichzeitig ist ihr Verhältnis auch durch Konkurrenz geprägt (Schedler & Eicher, 2013).

Die Entwicklung der verwaltungspolitischen Leitbilder im deutschsprachigen Raum zeigt beispielhaft das einerseits aus Komplementarität, andererseits aus Konkurrenz bestehende Verhältnis von Politik und Verwaltung auf. Jann und Wegrich (2010) identifizieren für die Zeit seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vier solcher Leitbilder: Für die 1950er-Jahre den «demokratischen Staat», ab Mitte der 1960er-Jahre den «aktiven Staat», ab Ende der 1970er-Jahre den «schlanken Staat» und seit Mitte der 1990er-Jahre den «aktivierenden Staat». Das Verhältnis zwischen Politik und Verwaltung war hierbei (vor allem in Deutschland) zunächst geprägt von einer legislativen Programmsteuerung und einer exekutiven Führerschaft in den 1950er-Jahren. Ab Mitte der 1960er-Jahre konnte eine funktionale Verschränkung des politisch-administrativen Systems beobachtet werden. Spätestens mit dem schlanken Staat erfolgte im Rahmen einer Aufgabenkritik der Vorwurf eines Staats- und Bürokratieversagens. International war diese Kritik ebenfalls durch den sogenannten «Thatcherismus» und die «Reaganomics» zu beobachten. Die darauffolgende breite Bewegung hin zum New Public Management (NPM) und dessen Förderung eines nach Unternehmensprinzipien geführten Staates in den 1990er-Jahren sowie der Wandel hin zu einer Verwaltungspolitik nach Governance-Prinzipien im «aktivierenden Staat» (Jann & Wegrich, 2010) können denn auch als Reaktion auf diese Kritik gesehen werden (Weil, 2017). Dies zeigt auf, dass die Entwicklung der Verwaltung aufgrund sich wandelnder gesellschaftlicher Anforderungen an den Staat als permanenten Prozess zu verstehen ist. Politische, ökonomische, technologische und kulturelle Rahmenbedingungen (z.B. Globalisierung, zunehmende Komplexität, sich verändernde Erwartungshaltungen der Bevölkerung an staatliche Dienstleistungen und neuerdings die Digitalisierung) geben dabei den Takt vor (Gees, 2019).

2.1 Entwicklung der Bundesverwaltung seit 1848

Hinsichtlich des Staatsausbaus – sowohl mit Blick auf die staatlichen Leistungen als auch auf die dem (Bundes-)Staat übertragenen Kompetenzen – kann die Schweiz im internationalen Vergleich als Nachzüglerin bezeichnet werden. Der Schweizer Bundesstaat verfügte bis zum Zweiten Weltkrieg über eine sehr kleine zentrale Verwaltung. Dies lässt sich mit der föderalen Struktur, der sich an liberalen Grundsätzen orientierenden Verfassung, dem Milizprinzip sowie einem ausgeprägten Korporatismus erklären. Die Verbände übernahmen immer wieder auch hoheitliche Aufgaben und trugen damit zur Entlastung der Bundesverwaltung bei – was politisch gewollt und systemisch verankert war (Church, 2004; Linder & Mueller, 2021). Sehr deutlich zeigt sich dies beim späten Ausbau der sozialstaatlichen Leistungen. So wurden wichtige Sozialversicherungen erst in den 1970er-Jahren (Arbeitslosenversicherung) oder gar den 1990er-Jahren (allgemeine Krankenversicherung) eingeführt (Studer, 1998).

Einen eigentlichen Wachstums- und Modernisierungsschub erlebte die Schweiz in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg und dies nicht nur wirtschaftlich, sondern vor allem auch mit Blick auf den Ausbau des Staates. Einerseits mit massiven Investitionen in die Infrastruktur (Flughäfen, Eisenbahn, Autobahn, Kraftwerke etc.) in den 1950er- und 1960er-Jahren. Andererseits aber auch mit einem starken Ausbau der staatlichen Planung und Unterstützung in fast allen Politikbereichen (z.B. Raumplanung, Bildungswesen, Landwirtschaft, Regionalpolitik oder die Unterstützung der Berggebiete) (Gilg & Hablützel, 2004). Mit diesem – sowohl im Umfang als auch in der Breite – deutlichen Wachstum der staatlichen Tätigkeit ging ein entsprechendes Wachstum der Verwaltung einher, um diese Entwicklungen planen und begleiten zu können. Insofern kann der Verwaltung eine Rolle als Förderin bzw. Wegbereiterin dieses Modernisierungsschubs zugewiesen werden. Während vor allem im 19. Jahrhundert und bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein das Motto «Schwacher Staat – starke Gesellschaft» die Ausgestaltung der Kompetenzen und Aufgaben der Bundesverwaltung dominiert hatte, trifft dies für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr im selben Ausmass zu. Starke korporatistische Entscheidungsstrukturen wirkten aber auch in der langen Phase des Wirtschaftswachstums von 1945 bis zum Ölpreisschock und der darauffolgenden Wirtschaftskrise der 1970er-Jahre nach, sodass bis in die 1990er-Jahre ein einvernehmlicher Entscheidungsstil zwischen Verwaltung und Wirtschaftsverbände herrschte. Institutionalisiert war dieser korporatistische Ansatz in der Ständigen Wirtschaftsdelegation, welche seit dem Zweiten Weltkrieg informell die relevanten Themen diskutierte. Einsitz in dieses Gremium nahmen neben den Spitzenbeamten aus dem Volkswirtschaftsdepartement die Vertreter der Wirtschaftsdachverbände (Arbeitgeber- und Gewerbeverband, Bauernverband sowie Gewerkschaften) (Linder & Mueller, 2021).

Exemplarisch lässt sich die Entwicklung am Beispiel der Aussenpolitik und des Eidgenössischen Politischen Departements (EPD) bzw. ab 1979 des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) aufzeigen. Bis 1883 bestand das gesamte Personal des Departments aus dem alljährlich wechselnden Chef (Bundesrat, der auch gleichzeitig Bundespräsident war) und einem festen Mitarbeiter (Hug, 1998). Das diplomatische Personal im Ausland wurde primär unter ansässigen Schweizer Geschäftsleuten rekrutiert, die als (unbezahlte) Handelskonsuln oder (schlecht bezahlte) Generalkonsuln amteten.

Bedingt durch den Zweiten Weltkrieg kam es zu einem deutlichen personellen Ausbau: 1947 verfügte das EPD über 578 Stellen in Bern und weitere 1’343 in den Auslandsvertretungen. Unmittelbar nach Kriegsende wurden deutlich Stellen abgebaut (Stellenbestand von 1955: 254 in der Zentrale in Bern und 962 in den Auslandsvertretungen). Dieser Abbau war jedoch nur von kurzer Dauer. Ab Mitte der 1950er-Jahre begann ein Ausbau, der bis heute anhält. Zum einen wurde dieser Ausbau dadurch bedingt, dass nach dem Zweiten Weltkrieg die internationalen Akteure immer seltener gewillt waren, Nicht-Diplomaten als Gesprächspartner zu akzeptieren, was eine Professionalisierung des diplomatischen Dienstes notwendig machte. Zum andern führten die zunehmende internationale Verflechtung und die einsetzende Globalisierung dazu, dass die Zahl der Auslandsvertretungen laufend ausgebaut wurde sowie bei immer mehr internationalen Organisationen Vertretungen eingerichtet werden mussten. Neben der Aussenwirtschafts- und Handelspolitik, die schon immer eine wichtige Rolle gespielt haben, wurden weitere Politikbereiche in die Aussenpolitik integriert (z.B. Abrüstung, Entwicklungszusammenarbeit, Förderung von Menschenrechten, Migration und natürlich die Umwelt- und Klimapolitik). So wuchs der Stellenbestand in Bern, Genf und den Auslandsvertretungen bis 1969 auf 1’601 Stellen an (Hug 1998). Der aktuelle Stand (2024) beträgt für das gesamte EDA 5’350 Stellen (Eidgenössische Finanzverwaltung, 2025).

Während sich der Ausbau der gesamten Bundesverwaltung seit den 1950er-Jahren kontinuierlich hingezogen hat, werden in Untersuchungen (z.B. Fischer & Sciarini, 2013; König, 2014) regelmässig die 1990er-Jahre als diejenige Phase beschrieben, in der sich – zumeist getrieben durch die internationale Verflechtung der Wirtschaft, die Internationalisierung der Innenpolitik und ab den 2000er-Jahren zudem aufgrund der Integration in den EU-Binnenmarkt aufgrund der Bilateralen Verträge – der Bürokratie-Ausbau zusätzlich beschleunigt hat.

Es ist jedoch nicht nur der Umfang der zugewiesenen Aufgaben, der zum stetigen Ausbau der Verwaltung geführt hat. Vielfach erhöhte sich auch die Komplexität der anfallenden Problemlagen. So haben sich beispielsweise sogenannte «wicked problems» (Rittel & Webber, 1973) entwickelt, d.h. Probleme, die quer zu den herkömmlichen Kompetenzbereichen im Organigramm einer Verwaltung liegen und aufgrund des dadurch verursachten, zusätzlichen Koordinationsbedarfs nach weiterem Wachstum verlangen.

Mit Blick auf die Gründe für den stetigen Ausbau der Bundesverwaltung sollte schliesslich auch auf den systemimmanenten Charakter des Wachstums von Verwaltungsstrukturen verwiesen werden. So kann Niskanens (1971) Bürokratiemodell basierend auf dem Rational-Choice-Ansatz als eine Erklärung dafür dienen, dass Verwaltungseinheiten ihr eigenes Budget bzw. die ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen maximieren wollen und somit selbst zum Wachstum der Verwaltung beitragen.

Das kontinuierliche Wachstum der Verwaltung hat deren Position im politischen Prozess grundsätzlich gestärkt. Zusätzlich hat auch die zunehmende Komplexität der politischen Geschäfte zu einer weiteren Stärkung beigetragen (Derlien et al., 2011). Werden die Herausforderungen aufgrund der Interdependenzen zu komplex, wird vermehrt wissenschaftliche Expertise eingeholt, die über die Verwaltung Eingang in den politischen Prozess findet (z.B. Expertenkommissionen). Die Verwaltung wird dadurch Teil der «epistemic communities»1, wodurch sie ihren Wissensvorsprung gegenüber der Politik weiter ausbauen kann. Während Parlamente jeweils aus der Verfassung den Anspruch auf politische Autorität ableiten könnten, haben sich die Verwaltungen über die Zeit hinweg eine auf Fachwissen basierende «epistemische Autorität» (Zürn, 2012) angeeignet.

2.2 Entwicklung des Verhältnisses zwischen Parlament und Verwaltung

Die Analyse des parlamentarischen Diskurses beschränkt sich im vorliegenden Beitrag auf die protokollierten Wortmeldungen in den beiden Kammern des Bundesparlaments der Schweizerischen Bundesversammlung. Kantonale oder lokale Quellen werden nicht berücksichtigt. Werden jedoch in den Debatten der Bundesversammlung explizit kantonale oder städtische Verwaltungen angesprochen, so sind diese Beiträge in der Analyse einbezogen. Zu beachten ist ferner, dass die Untersuchung auf dem öffentlichen Teil der Legislative – den mündlich gehaltenen Reden im Parlamentsplenum – basiert und somit keine Informationen aus den Parlamentskommissionen beinhaltet. Dies ist insofern von Bedeutung, da sich das Schweizer Parlament als «Arbeitsparlament» mit einem hohen Anteil an Gesetzgebungstätigkeit versteht, während Grundsatzdebatten und Rededuelle zwischen Regierung und Opposition kaum vorkommen (Linder & Mueller, 2017). Vatter (2024) verweist zudem darauf, dass der Wechsel vom Rede- zum Arbeitsparlament schwerpunktmässig in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stattgefunden hat, was mit dem Beginn des Analysezeitraums zusammenfällt.

Der Übergang vom Rede- zum Arbeitsparlament geht mit einem grösseren Willen zur politischen Gestaltung und Einflussnahme durch das Parlament einher. Die Frage, wie stark die Stellung der Schweizerischen Bundesversammlung gegenüber Regierung und Verwaltung sei, wird immer wieder kontrovers beurteilt, was dem Umstand geschuldet ist, dass die Schweizerische Bundesversammlung bezüglich ihrer rechtlichen Kompetenzen sehr stark, ressourcenmässig hingegen eher schwach ausgestattet ist (Schwarz et al., 2011; Vatter, 2018). Das Ungleichgewicht zwischen der wachsenden Verwaltung und dem ressourcenschwachen Parlament erreichte den Höhepunkt in den 1960er-Jahren. Nach Eichenberger (1965, S. 285) ging das Parlament an einer «administrativ-gouvernementalen Krücke». Im Jahre 1968 äusserte er sich zudem wie folgt (zitiert nach Schindler, 2013, S. 70–71):

«Dem Milizparlament liegt ein ganz bestimmtes Staatsbild zugrunde: Das des Minimalstaats mit wenigen und überblickbaren Aufgaben, das des einfachen Gesetzgebungs- und Leitungspensums, das allein schon mit gesundem Menschenverstand sachgerecht bewältigt werden kann. (…) Die Realität hat uns indessen einen Staat gebracht, der sich mit einer ungeheuren Aufgabenfülle abmühen muss, der ununterbrochen Gesetze und staatsleitende Entscheide ausstossen, der ein sehr kompliziertes Sachgefüge meistern muss. (…) Der heutige Parlamentarier jedoch ist sachlich und zeitlich überfordert.»

In seiner Einschätzung der damaligen Zeit ist Eichenberger keineswegs allein. Aubert (1998, S. 144) bezeichnet die Phase vom Ersten Weltkrieg bis Mitte der 1960er-Jahre gar als die «Herrschaft des Bundesrates». Seither hat das Parlament zunehmend an Gewicht gewonnen (Aubert, 1998; Neidhart, 2013; Vatter, 2018). Ein erster bedeutender Schritt in diese Richtung erfolgte im Nachgang zur sogenannten «Mirage-Affäre», als die auf einem ausgeprägten Milizgedanken basierenden Parlamentsstrukturen einer substanziellen Reform unterzogen wurden, um die Kontrollfunktion gegenüber der Exekutive besser wahrnehmen zu können. Zu nennen ist insbesondere die Einführung der Parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK) (Storz & Mueller, 2018). In den Jahrzehnten danach folgten ein Ausbau der Parlamentsdienste, die Ablösung der Ad-hoc-Kommissionen durch permanente Sachbereichs- und Aufsichtskommissionen, eine weitere Stärkung der Kompetenzen der Geschäftsprüfungskommission und -delegationen, die Einrichtung der Parlamentarischen Verwaltungskontrolle (PVK) sowie Erhöhungen der finanziellen Entschädigungen an die Fraktionen und die einzelnen Parlamentsmitglieder (Lüthi, 1996; Aubert, 1998; Storz & Mueller, 2018; Bundi, Eberli & Bütikofer, 2018). Neben der Kontroll- und Gesetzgebungsfunktion fand auch die Wahlfunktion des Parlaments ab den Nullerjahren eine zusätzliche Stärkung (Schwarz & Vatter, 2011).

Dieser kurze Überblick zeigt, dass sich das gegenüber der Verwaltung in jeder Hinsicht (finanziell, personell und bezüglich der Fachkompetenz) unterlegene Parlament ab Mitte der 1960er-Jahre zunächst langsam, seit den 1990er-Jahren dann mit zunehmendem Tempo professionalisiert hat. Die zunehmende Ressourcenausstattung der letzten rund 30 Jahre ermöglichte es, dass das Parlament seither imstande ist, einen stärkeren Einfluss auf die Politikgestaltung zu nehmen und eine effektivere Kontrolle der Verwaltung auszuüben (Lüthi, 2014; Vatter, 2018). Rein quantitativ zeigt sich dies beispielhaft am starken Anstieg von eingereichten Fragen an die Regierung und Vorstössen im Nationalrat innerhalb der letzten 30 Jahre von rund 800 auf etwa 3’000 (Schweizer Parlament, 2025). Zu erwarten ist daher, dass sich dies in einer häufigeren und kritischeren Begleitung der Verwaltungstätigkeit niederschlägt.

2.3 Forschungsfragen und Erwartungen bezüglich der Ergebnisse

Im Abschnitt 2.1 wurde der kontinuierliche Ausbau der Bundesverwaltung nachgezeichnet. Diese Ausführungen stellen die historische Grundlage des vorliegenden Beitrags dar. Ergänzend wurde aufgezeigt, wie sich dieser Ausbau theoretisch erklären und einbetten lässt. Der Ausbau der Verwaltung vollzog sich unter den Augen des Parlaments und sollte sich entsprechend auch in den parlamentarischen Debatten niedergeschlagen haben – zumindest in den Budgetdebatten, aber auch im Rahmen von einzelnen parlamentarischen Vorstössen. Die nachfolgenden Analysen untersuchen, wie der Verwaltungsausbau im Parlament diskutiert und bewertet wurde bzw. wie sich der Themenbereich «Verwaltung» resp. «Bürokratie» in den parlamentarischen Vorstössen und Debatten seit 1950 niedergeschlagen und entwickelt hat. Im Zentrum stehen dabei die folgenden vier Forschungsfragen:

  1. Wie oft wurde im Parlament seit dem Jahr 1950 die Verwaltung bzw. die Bürokratie thematisiert?

  2. Von welchen Parteien wurde das Thema wie oft angesprochen?

  3. Wie wurde über das Thema debattiert? Wurde die Verwaltung bzw. Bürokratie eher positiv oder eher negativ angesprochen?

  4. Auf welche Weise – positiv oder negativ – haben die Parteien das Thema angesprochen?

Wie bereits erwähnt, betritt der vorliegende Beitrag gleich in mehrfacher Sicht Neuland – so bei der Anwendung quantitativer Ansätze auf verwaltungshistorische Fragestellungen oder bei der Analyse der vollständigen Parlamentsdebatten seit 1950 anhand eines LLM-Verfahrens. Vor diesem Hintergrund wurde die Datenanalyse basierend auf einem explorativen Ansatz geplant und durchgeführt. Entsprechend werden im vorliegenden Beitrag denn auch keine Hypothesen formuliert und es werden ausschliesslich deskriptive Resultate präsentiert.

Anhand der vier Forschungsfragen soll primär eine Auslegeordnung des parlamentarischen Bürokratie-Diskurses der vergangenen rund 70 Jahre präsentiert und somit eine Grundlage für zukünftige, tiefergehende Analysen bereitet werden. Um die Einordnung der Resultate in den historischen Kontext zu erleichtern, insbesondere mit Bezug auf den jeweiligen Stand des Bürokratie-Ausbaus und den damit zusammenhängenden parteipolitischen Forderungen im Parlament, werden jedoch nachfolgend zwei begründete Erwartungen formuliert, welche im Rahmen der Bearbeitung der Forschungsfragen ebenfalls überprüft werden.

Das bereits erwähnte Beispiel des Aussendepartements zeigt eindrücklich auf, wie die Schweiz sich zu Beginn an einem sehr schlanken Staat orientierte und sich selbst in den Aussenbeziehungen stark auf das Milizsystem abstützte, um staatliche Aufgaben erfüllen zu können. Ebenfalls wird deutlich, dass diese Strategie zunehmend versagte und spätestens ab 1945 einer umfassenden Professionalisierung Platz machen musste, die neben dem qualitativen auch einen massiven quantitativen Ausbau mit sich gebracht hat. Ein nur rudimentär vorhandener, von Milizpersonal unterstützter Verwaltungsapparat reichte nicht mehr aus, um den Anforderungen gerecht zu werden.

Vergleichbare Entwicklungen lassen sich auch für andere Politikbereiche aufzeigen. Ohne eine gut funktionierende Verwaltung wäre der Modernisierungsschub, der die zentrale Grundlage für die positive wirtschaftliche Entwicklung seit 1945 darstellt, nicht möglich gewesen. Vor diesem Hintergrund kann der Ausbau der professionellen Verwaltung als eine tragende Stütze des wirtschaftlichen Wohlstands in der Schweiz gesehen werden. Entsprechend lässt sich die folgende Erwartung formulieren:

Erwartung 1: Die als positiv wahrgenommene Rolle des Verwaltungsaufbaus und -ausbaus zu Beginn des Beobachtungszeitraums in den 1950er- und 1960er-Jahren in Kombination mit der äusserst schwachen Rolle des Parlaments in diesem Zeitraum hat zu einer ebenfalls eher positiven Beurteilung der Verwaltung durch die politischen Akteure im Parlament geführt.

Die Kritik einer ausufernden Verwaltung ist nicht neu – sie begleitet den Bundesstaat seit seiner Gründung im Jahr 1848 (Dahinden, 2008; Germann, 1998). In der Literatur wird immer wieder die «Mirage-Affäre» in den 1960er-Jahren als Ausgangspunkt einer wachsenden Kritik an der Bundesverwaltung genannt, die nicht zuletzt auch zur Einführung des Instruments der Parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK) geführt hat (Storz & Mueller, 2018). Die wirtschaftliche Krise der 1970er-Jahre hat zusätzlich zu einer Verschärfung der politischen Debatten geführt, was auf internationaler Ebene in die neoliberale Wende der 1980er-Jahre mündete. Diese Entwicklung ging auch an der Schweiz nicht spurlos vorbei. So zog die Freisinnig-Demokratische Partei (FDP) mit dem Motto «Mehr Freiheit – weniger Staat» erfolgreich in den Nationalratswahlkampf von 1979. Die Kritik am Staat und gleichzeitig immer auch an der Bürokratie sollte von da an bis heute nicht mehr abreissen. Die in den 1990er-Jahren intensiv diskutierten und ausprobierten Verwaltungsreformen des «New Public Management» (NPM) und der «Wirkungsorientierten Verwaltung» (WoV) können als Reaktion auf diese wachsende Kritik verstanden werden (Weil, 2017). Dass in den politischen Debatten der letzten zehn bis zwanzig Jahre die Kritik an einer überbordenden Verwaltung, die hohe Kosten und Effizienzverluste mit sich bringt sowie Wirtschaft und Bevölkerung mit immer neuen Regulierungen gängelt, stets lauter geworden ist, kommt mit Blick auf das zunehmende Wachstum der Verwaltung in den vergangenen Jahrzehnten nicht überraschend. Vor diesem Hintergrund lässt sich die folgende Erwartung formulieren:

Erwartung 2: Mit Blick auf die oben skizzierte Entwicklung sowie auf den zuvor dargelegten Ausbau der Parlamentsressourcen ist zu erwarten, dass die Kritik an der Verwaltung mit Beginn der 1970er-Jahre stetig zunimmt, und in den Jahren nach der Jahrtausendwende ihren (vorläufigen) Höhepunkt erreicht.

3. Daten und methodisches Vorgehen

3.1 Datengrundlage

Um die Verwendung des Bürokratie-Begriffs in den Debatten des Schweizer Parlaments seit Ende des Zweiten Weltkriegs zu untersuchen, wird auf den DemocraSCI Knowledge Graph – eine relationale Datenbank, die sämtliche parlamentarischen Aktivitäten der Schweizerischen Bundesversammlung von 1891 bis heute erfasst – zurückgegriffen.2 Neben sämtlichen parlamentarischen Vorstössen und Geschäften sowie Botschaften und Berichten des Bundesrates finden sich darin mehr als 500’000 parlamentarische Debattenbeiträge und Reden. Zudem enthält die Datenbank auch Angaben zu sämtlichen Parlamentsmitgliedern. Diese sowohl ausserordentlich breite als auch detaillierte Datenbasis erlaubt somit umfassende Analysen der politischen Vorgänge und Debatten im Schweizer Parlament.

Im Rahmen der vorliegenden Analyse erstreckt sich der Beobachtungszeitraum auf die Debatten zwischen 1950 und 2023. Für die Jahre vor 1996 wurden die Angaben aus der gedruckten Version des Amtlichen Bulletins übernommen und digitalisiert (Salamanca et al., 2024). Seit 1999 liegen die Debatten seitens der Parlamentsdienste vollständig digitalisiert vor. Die Daten aus der Umstellungszeit von 1996–1998 werden von den Parlamentsdiensten zwar ebenfalls zur Verfügung gestellt, konnten aber bislang noch nicht in den DemocraSCI Knowledge Graph integriert werden und bilden somit nicht Teil der Untersuchung. Da sich die Analyseeinheit in zeitlicher Hinsicht auf ganze Jahrzehnte bezieht und somit auch für die 1990er-Jahre ein genügend grosser Datenbestand vorhanden ist, stellt dies für den vorliegenden Beitrag kein Problem dar.

Bezogen auf den gesamten Beobachtungszeitraum enthält der Datensatz 312’322 Debattenbeiträge (Wortmeldungen einzelner Parlamentsmitglieder sowie der Bundesratsmitglieder), die für die Analyse in über 6.2 Mio. einzelne Sätze aufgebrochen worden sind. Davon liegen 90.8% auf Deutsch, 8.5% auf Französisch und 0.6% auf Italienisch vor. Interessant ist auch, wie die Zahl und Länge der Debatten im Verlauf der Zeit zugenommen haben: Für die gesamten 1950er-Jahre finden sich in der Datenbank 14’804 Debattenbeiträge, während es für die zehn Jahre ab 2010 mit 68’471 Beiträgen mehr als viermal so viele waren.

3.2 Methodik

Traditionelle Inhaltsanalysen stützen sich stark auf von Expertinnen und Experten entwickelte Kodierschemata und manuelle Annotationen ab – ein äusserst arbeitsintensiver und zeitaufwendiger Prozess, der zum einen ressourcenbedingt bei grossen Textbeständen an seine Grenzen stösst und zum anderen oft an sprachlichen Nuancen und bei längeren Beobachtungszeiträumen am sich über die Zeit wandelnden Sprachgebrauch scheitert. Zwar haben (computergestützte) Wörterbuch-basierte Ansätze und überwachtes maschinelles Lernen (ML) nutzende Verfahren den Analyseprozess beschleunigt und erlauben die Analyse grösserer Datenbestände, doch bleiben auch sie in ihren Anwendungsmöglichkeiten begrenzt: Feste Wörterbücher sind unflexibel, während überwachte Modelle grosse Mengen an gelabelten Daten benötigen und auf Forschende oft wie Blackboxes wirken.

In der Forschung zur computerassistierten Inhaltsanalyse haben sich in den letzten Jahren verschiedene methodische Ansätze etabliert. Wörterbuchbasierte Verfahren (Carley, 1990; Vourvachis & Woodward, 2015) erlauben eine transparente und replizierbare Klassifikation, sind jedoch sprachlich unflexibel und stossen bei diachronen Korpora – wie parlamentarischen Debatten über sieben Jahrzehnte – an Grenzen, da sich Bedeutungen und Sprachgebrauch verändern (Greene et al., 2019; Van Atteveldt et al., 2021). Vollautomatisierte, auf überwachten Lernverfahren oder LLMs basierende Modelle versprechen höhere Effizienz, verlieren aber häufig an Nachvollziehbarkeit und Reproduzierbarkeit (Jordan et al., 2023; Nelson et al., 2021).

Das hier eingesetzte Tool Embed2Discover (Bakhteev et al., 2025; Brandenberger et al., 2024) kombiniert diese Ansätze in einem Human-in-the-loop-Verfahren: Forschende steuern die automatische Wörterbucherweiterung, Clustering und Klassifikation aktiv, was die Balance zwischen algorithmischer Skalierbarkeit und interpretativer Kontrolle wahrt. Dadurch wird gewährleistet, dass die Identifikation bürokratierelevanter Textpassagen nicht allein auf festgelegten Schlüsselwörtern beruht, sondern auch semantische und kontextuelle Ähnlichkeiten erfasst werden können.

In diesem Sinne versteht sich der Beitrag als methodische Weiterentwicklung der Text-as-Data-Analysen, da er LLM-basierte semantische Verfahren nachvollziehbar auf den politischen Diskurs über die Verwaltung in der Schweiz anwendet.

Bei Embed2discover handelt es sich um ein semiautomatisiertes Tool zur (multi-lingualen) Wörterbuch-basierten Inhaltsanalyse, das die Stärken traditioneller manueller Codierung mit denjenigen moderner Sprachmodelle bzw. NLP-Techniken kombiniert. Im Gegensatz zu starren Wörterbüchern oder intransparenten ML-Modellen nutzt dieses Analyseinstrument Wort-Embeddings (hier auf Parlamentssprache-trainierte SwissBERT-Embeddings (Vamvas et al. 2023)), semantische Clustering-Verfahren (K-means Algorithmus) und aktives Lernen (mit Hilfe von logistischen Kernregressionen (Pedregosa et al. 2011)), um Forschenden eine flexiblere und besser nachvollziehbare Identifikation und Klassifikation thematisch relevanter Texte zu ermöglichen. Ausgehend von einem Input bestehend aus einigen wenigen themenspezifischen Schlagwörtern wird diese Liste über mehrere Schritte hinweg (semi-)automatisiert und unter Beizug von Textähnlichkeiten laufend erweitert und schliesslich ein Wörterbuch erstellt. Anschliessend wird basierend auf diesem Wörterbuch der gesamte Textbestand ebenfalls iterativ in semantisch relevante und irrelevante Sätze gegliedert. Dieser Cluster- und Annotierungsprozess wird systematisch durch die Forschenden begleitet, gesteuert und – sofern notwendig – korrigiert. Durch diesen aktiven Lernprozess verbessert sich die Qualität der Klassifikation in relevante und irrelevante Sätze deutlich. Der Ansatz reduziert den zeitlichen Aufwand der involvierten Forschenden spürbar, passt sich sprachlichen Variationen an und erhöht die Zuverlässigkeit grossangelegter Textanalysen. Hinzu kommt, dass bei mehrsprachigen Textbeständen die Klassifikation ebenfalls zuverlässig in den anderen Sprachen funktioniert und dies sogar, wenn das Training lediglich in einer Sprache vorgenommen wird (für eine detaillierte Beschreibung des Verfahrens vgl. Bakhteev et al. (2025)).

Im vorliegenden Fall wurden neben dem Begriff «Bürokratie» sowie den weiteren Begriffen des Wortstamms wie «bürokratisch» und «Bürokrat» die folgenden Begriffe als Input zuhanden der semiautomatischen Klassifikation verwendet: «Verwaltung», «Verwaltungskontrolle», «Verwaltungsapparat», «Verwaltungswachstum», «Regulierungswut», «Stellenwachstum», «ausufernd», «überbordend» und «aufgebläht». Embed2discover erweiterte diese Auflistung automatisch mit zusätzlichen Begriffen, die diesen Wörtern semantisch nahestehen (z.B. «Verwaltungsbürokratie», «Beamtenapparat», «Bürokratieflut» oder «Administrativabbau») auf letztlich über 200 Begriffe, die als Wörterbuch für die nachfolgenden Analysen verwendet worden sind.

Im nächsten Schritt wurde das Modell mit Hilfe aktiven Lernens auf die Erkennung relevanter Sätze trainiert. Über mehrere Runden hinweg legte Embed2discover jeweils acht Sätze, die das Modell als relevant eingestuft hat, sowie zwei Sätze, bei denen das Modell unsicher war, den Forschenden zur manuellen Codierung in relevante bzw. nicht relevante Sätze vor. Basierend auf diesem Feedback wurde das Modell angepasst (trainiert) und hat neue Berechnungsrunden gestartet. Das hier verwendete Modell wurde auf diese Weise über insgesamt 70 Runden hinweg trainiert, bis es eine hohe f1-Genauigkeit ausgewiesen hat (f1-score > 0.80). Im Anhang 1 werden die Ergebnisse der Kreuz-Validierung (f1 = 0.82, PR = 0.89) dargestellt.

Da es sich bei Embed2discover um ein semiautomatisiertes Analyseinstrument handelt, weisen die Ergebnisse keine 0/1-Codierung auf, sondern die analysierten Sätze werden mit einer Relevanz-Wertung ausgegeben. Diese reicht von 0 (völlig irrelevant) bis 1 (maximal relevant). Anhand einer Kreuz-Validierung kann Embed2discover berechnen, welcher Wert erreicht werden muss, damit die Sensitivität und Spezifität der binären Vorhersagen optimiert werden können. In der vorliegenden Auswertung liegt dieser Wert bei 0.33. Abbildung 1 zeigt die Bandbreite der Berechnung der Relevanz-Klassifikation im Rahmen der vorliegenden Auswertung auf. Je höher die Werte, umso höher fällt die Wahrscheinlichkeit aus, dass sich diese Sätze auch wirklich inhaltlich auf den zu untersuchenden Themenbereich – in diesem Fall das Thema «Bürokratie» – beziehen. Sätze unterhalb des Wertes 0.33 (rot markiert) wurden als irrelevant aus den weiteren Analysen ausgeschlossen.

ssas-16-1-234-g1.png
Abbildung 1

Bandbreite und Beispiele der berechneten Satz-Relevanz.

Aus dem gesamten Textbestand von mehr als 6.2 Mio. Sätzen hat das so trainierte Modell am Ende 32’417 Sätze als relevant bzw. als bürokratiebezogene Sätze eingestuft. Es ist notwendig darauf zu verweisen, dass das Modell im Gegensatz zu einfachen Wortsuchen/-zählungen eben nicht nur stur Sätze berücksichtigt, in denen die im Wörterbuch definierten Schlagworte vorkommen. Auch Sätze, in denen keines der Schlagworte vorkommt, können als relevant eingestuft werden, während andererseits Sätze, in denen vordefinierte Schlagworte vorkommen, dennoch als irrelevant klassifiziert werden können. Ein einfaches Beispiel dafür ist der Umstand, dass sich das Modell auf deutsche Schlagworte abstützt, aber dennoch in der Lage ist, auch französische und italienische Sätze zu klassifizieren. Ein weiteres Beispiel findet sich in Abbildung 2, aus der die Klassifikationen des Modells für das Beispiel-Schlagwort «*bürokrat*» nach Jahrzehnten gegliedert ersichtlich ist (beginnend mit den 1950er-Jahren bis in die 2020er-Jahre, welche hier die Jahre 2020 bis 2023 umfassen).

ssas-16-1-234-g2.png
Abbildung 2

Anteil relevanter Sätze nach gewählter Analysemethode.

Violett gefärbt ist jeweils der Anteil der Sätze, die vom Modell als relevant eingestuft worden sind, in denen jedoch das Wort «*bürokrat*» nicht vorkommt. Blau eingefärbt ist der Anteil der relevanten Sätze, in denen auch tatsächlich das Wort «*bürokrat*» enthalten ist – diese Sätze wären im Gegensatz zur violetten Kategorie auch durch eine einfache Wortzählung gefunden worden. Grün eingefärbt hingegen ist der Anteil der Sätze, die das Modell im Fall der vorliegenden Analyse als inhaltlich irrelevant eingestuft hat, obschon das Wort «*bürokrat*» in ihnen vorkommt. Diese Sätze wären bei einer reinen Wortzählungsmethode irrtümlicherweise als relevant eingestuft worden («false positives»).

Addiert man die violetten und blauen Anteile, so erhält man den Anteil an relevanten Sätzen gemäss dem Embed2discover-Modell, während die blauen und grünen Anteile den Sätzen entsprechen, die durch eine reine Wortzählungsmethode als relevant eingestuft worden wären.

Die Vorteile des Embed2discover-Ansatzes gegenüber einer einfachen Wörterbuch-basierten Auszählung lassen sich anhand der Abbildung 2 sehr deutlich aufzeigen. Der mit Abstand grösste Teil der relevanten Sätze (violett) wäre im Rahmen einer reinen Wortzählung durch das Suchraster gefallen. Weiter zeigt sich, dass eine reine Wortzählung zu einem erheblichen Anteil von fälschlicherweise als relevant betrachteten Sätzen geführt hätte (grün), der rund die Hälfte der insgesamt als relevant eingestuften Fälle (blau und grün) ausgemacht hätte.

4. Resultate

4.1 Generelle Entwicklungen seit 1950

Über den gesamten Beobachtungszeitraum hinweg betrachtet zeigt sich, dass die Häufigkeit, mit der in der Bundesversammlung über das Thema «Bürokratie» gesprochen wird, zugenommen hat (vgl. Abbildung 3). Während in den 1950er-Jahren noch 3.5% aller im Parlament gesprochenen Sätze einen Bürokratiebezug aufgewiesen haben, hat sich dieser Anteil bis zu den Jahren ab 2010 mehr als verdoppelt.

ssas-16-1-234-g3.png
Abbildung 3

Anteil relevanter Sätze gemessen an allen Sätzen pro Jahrzehnt.

Weiter lässt sich anhand der Abbildung 3 zeigen, dass dieser Anstieg etappenweise geschah. In einer ersten Phase erfolgt bis in die 1970er-Jahre ein stetiger, aber relativ geringer Anstieg. Die zweite Phase, beginnend mit den 1980er-Jahren, weist zunächst einen sprunghaften Anstieg auf. Danach hält sich dieses neue Niveau bis Ende der 2000er-Jahre, bevor schliesslich als dritte Phase ab den 2010er-Jahren ein erneuter, noch stärkerer Sprung nach oben zu verzeichnen ist.

Ergänzend zu diesem quantitativen Überblick vermittelt Abbildung 4 einen qualitativen Eindruck, wie sich die bürokratierelevanten Debatten seit den 1950er-Jahren entwickelt haben. Die Abbildung enthält Darstellungen der zentralen Debattenbegriffe gegliedert in die drei Phasen. Die Schlagwortwolken (Wordclouds) in der oberen Hälfte (Teil A) der Abbildung basieren auf den deutschsprachigen Sätzen in den Reden (>90% der Sätze) und sind auf Substantive (Nomen) gefiltert, die mehr als vier Zeichen lang sind und keine Stoppwörter enthalten. Wordclouds stellen eine visuelle Umsetzung von Begriffshäufigkeiten dar: Je häufiger ein Begriff im jeweiligen Zeitraum vorkommt, desto grösser und stärker farblich abgesetzt ist dieser in der Wolke dargestellt. In der unteren Hälfte der Abbildung 4 (Teil B) ist die Veränderung der Begriffshäufigkeiten der acht wichtigsten Begriffe über die drei Phasen hinweg dargestellt. Die acht Begriffe stellen die sechs häufigsten Substantive pro Phase dar. Aufgrund erwartbarer Überlappungen zwischen den Phasen resultieren daraus nur acht (statt 18) Begriffe.

ssas-16-1-234-g4.png
Abbildung 4

Veränderung der zentralen Substantive in bürokratiebezogenen Debatten über die Zeit. A: Wordclouds der Begriffe. B: Veränderung der acht häufigsten Begriffe.

Zum einen zeigt sich als stark ausgeprägte Kontinuität, dass über den gesamten Beobachtungszeitraum hinweg «Aufwand» den am häufigsten in den Debatten verwendete Begriff darstellt (von 2.0% in Phase 1 auf 4.8% in Phase 3). Das Wort «Bürokratie» hingegen wurde in der ersten Phase kaum benutzt (0.8%), ist aber bis zur dritten Phase auf 3.6% angewachsen. Das Wort «Kosten» ist in der ersten Phase in 1.1% der Debatten vertreten, in der zweiten Phase in 1.6% und in der dritten Phase in 1.9%.

Zum anderen ist eine qualitative Entwicklung der Debatten erkennbar: In der ersten Phase bis Ende der 1970er-Jahre wurde das Thema breit aufgegriffen, sodass neben «Aufwand» eine ganze Reihe weiterer Begriffe hervorsticht. Die acht zentralen Begriffe (Teil B der Abbildung) decken nur 8.5% aller Substantive in dieser Phase ab. Ab der zweiten Phase (1980er- bis 2000er-Jahre) setzt ein Konzentrationsprozess ein. In dieser zweiten Phase decken die acht Substantive bereits 9.9% aller deutschsprachigen Substantive ab. In der dritten Phase ab 2010 akzentuiert sich dieser Konzentrationsprozess weiter. In dieser Phase decken die acht wichtigsten Substantive bereits 13.4% aller Substantive ab.

Die skizzierte Entwicklung passt ins Bild, das sich zusätzlich aus der Abbildung 2 im vorangehenden Abschnitt gewinnen lässt. Bürokratierelevante Sätze, die auch den Begriff «*bürokrat*» enthalten (blau eingefärbt) steigern ihren Anteil von 0.1 Promille in den 1950er-Jahren auf über 1 Promille in den Jahren seit 2010. Diese Beobachtungen können als ein erstes Indiz dafür gewertet werden, dass die Debatten im Verlauf der Zeit laufend kritischer gegenüber der Verwaltung bzw. dem Wachstum der Verwaltung geworden sind. Das starke Aufkommen des überwiegend negativ konnotierten Begriffs «Bürokratie» in den Debatten der letzten Jahre deutet zumindest stark in diese Richtung. Auf diesen Punkt wird in Abschnitt 4.3 explizit eingegangen.

4.2 Entwicklung nach Parteigruppen

Die insgesamt über 32’000 identifizierten relevanten Sätze können dank der verwendeten DemocraSci Knowledge Graph-Datenbank den Parlamentsmitgliedern und somit auf aggregierter Ebene auch einzelnen Parteien zugeordnet werden. Somit kann der Frage nachgegangen werden, wie oft bürokratiebezogene Sätze in den gesammelten Debattenbeiträgen der einzelnen Parteien vorkommen (vgl. Abbildung 5).

ssas-16-1-234-g5.png
Abbildung 5

Anteil bürokratiebezogener Sätze nach Parteigruppen.

Allerdings werden zwecks Übersichtlichkeit anstelle einzelner Parteien Parteigruppen als Analysekategorie verwendet. Seit 1950 hat sich viel verändert – nicht zuletzt auch die Schweizer Parteienlandschaft. In den vergangenen 75 Jahren haben (teilweise mehrfach) Namensänderungen oder Zusammenschlüsse stattgefunden, einzelne Parteien sind neu entstanden, andere sind verschwunden. Um über den gesamten Beobachtungszeitraum hinweg stabile Analysekategorien verwenden zu können, wurden daher alle Parteien, die seit 1950 im Schweizer Parlament vertreten waren, einer von vier Parteifamilien zugeordnet, die sich am Parteien-Stammbaum nach Vatter (2024) orientiert:

  • Linke Parteien: Sozialdemokratische Partei (SP) und Grüne sowie linke Kleinparteien;

  • Liberale Parteien: Freisinnig-Demokratische Partei (FDP inkl. die ehemalige Liberale Partei (LPS) sowie die Grünliberalen (GLP);

  • Parteien in der politischen Mitte: Neben der Mitte-Partei selbst (inkl. der ehemaligen Christlich-demokratischen Volkspartei (CVP) und deren Vorgängerpartei, den Katholisch-Konservativen, sowie der ehemaligen Bürgerlich-Demokratischen Partei (BDP)) ist hier zudem die Evangelische Volkspartei (EVP) eingeschlossen;

  • Rechte Parteien: Schweizerische Volkspartei (SVP inkl. ihrer Vorgängerin, der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB)) und rechte Kleinparteien.

Bei den drei bürgerlichen Parteifamilien (Mitte, Liberale und Rechte) zeigt sich mit der generellen Zunahme des Anteils der bürokratiebezogenen Sätze im Zeitverlauf ein ähnliches Bild wie es bereits in Abbildung 4 präsentiert worden ist. Anders verhält es sich mit den linken Parteien. In ihren Debattenbeiträgen ist der Anteil bürokratiebezogener Sätze über den gesamten Zeitraum seit 1950 leicht fallend. Interessanterweise waren es gerade die linken Parteien, die zunächst die Bürokratie deutlich am häufigsten thematisiert haben. Erst ab den 1980er-Jahren wurden sie diesbezüglich von den rechten sowie knapp auch von den liberalen Parteien übertroffen und erst ab den 2000er-Jahren auch von der politischen Mitte.

Auffallend ist auch, dass die Parteien am linken und rechten Pol des Parteienspektrums in den 2000er-Jahren einen Ausschlag nach unten aufweisen, während die Nennungen bei den beiden anderen Parteifamilien relativ stabil bleiben. Gut erkennbar verläuft die Zunahme bei den liberalen und den Parteien der Mitte in zwei Schritten: zunächst bis in die 1980er-Jahre und danach erneut ab den 2010er-Jahren. Der Anstieg in den 2010er-Jahren ist allen Parteien gemeinsam, selbst – nun auf deutlich tieferem Niveau – innerhalb der linken Parteifamilie.

4.3 Sentimentanalyse der bürokratierelevanten Sätze

Bislang wurde analysiert, wie oft bürokratiebezogene Sätze Eingang in die parlamentarischen Debatten gefunden haben. Interessant ist aber auch die Frage, wie über das Thema gesprochen wurde. Wurden die Sätze eher in einen negativen oder eher in einen positiven Kontext gesetzt? Und wie haben sich diese Einstellungen im Verlauf der Zeit verändert?

Zur Beantwortung dieser Fragen wurde eine Sentimentanalyse durchgeführt, die auf dem GermanSentiment-Modell von Guhr et. al. (2020) basiert – einem kontextsensitiven maschinellen Modell, das Transformer-Architekturen nutzt. Dieses Modell klassifiziert ganze Sätze als positiv, neutral oder negativ, wobei es Wortstellung, semantische Bedeutung sowie sprachliche Feinheiten wie Sarkasmus, Negation und komplexe Formulierungen berücksichtigt. Es stellt somit einen differenzierteren Ansatz dar als einfachere lexikonbasierte Verfahren. Das GermanSentiment-Modell ist für deutsche Sprache konzipiert, weshalb die nachfolgende Analyse auf den deutschen Sätzen in den Reden (>90%) basiert.

Zunächst muss darauf hingewiesen werden, dass der weitaus grösste Teil der Debattenbeiträge im Rahmen der Sentimentanalyse als neutral eingestuft worden ist. Der gemeinsame Anteil der als positiv oder negativ klassifizierten Sätze beträgt in keinem der untersuchten Zeitabschnitte mehr als 11.8%. Um die Lesbarkeit zu verbessern, werden in den nachfolgenden Abbildungen 6 und 7 jedoch nur die Anteile der als positiv und negativ eingestuften Debattenbeiträge dargestellt.

ssas-16-1-234-g6.png
Abbildung 6

Positive und negative bürokratiebezogene Debattenbeiträge seit 1950.

ssas-16-1-234-g7.png
Abbildung 7

Sentimentanalyse bürokratiebezogener Debattenbeiträge nach Parteifamilie.

Insgesamt zeigt sich zunächst, dass der Anteil negativer Wortmeldungen zum Themenbereich «Bürokratie» in den parlamentarischen Debatten von 6.3% in den 1950er-Jahren auf 10.7% in 2020er-Jahren stark angestiegen ist. Der Anteil positiver Aussagen hingegen verharrte durchgehend bei rund einem Prozent. In den Wordclouds in Abbildung 4 zeigte sich bereits, dass der im heutigen Sprachgebrauch eher negativ bewertete Begriff «Bürokratie» seit 2010 massiv an Bedeutung in den bürokratiebezogenen Debatten gewonnen hat, was als Indiz dafür gewertet werden kann, dass die Verwaltung bzw. deren Wachstum zunehmend als Problem oder Belastung thematisiert werden. Diese Einschätzung wird durch die Sentimentanalyse nun bestätigt.

Auch im Rahmen der Sentimentanalyse bietet es sich an, die bürokratiebezogenen Debattenbeiträge zusätzlich aufgeschlüsselt nach ideologischer Lagerzugehörigkeit zu untersuchen. Dazu wird wieder auf die vier bereits im vorangehenden Abschnitt verwendeten Parteifamilien zurückgegriffen (vgl. Abbildung 7).

Zunächst fällt auf, dass unabhängig von der politischen Ausrichtung die negativen Wortmeldungen die Debatten sehr deutlich dominieren. Zudem nimmt der Anteil negativer Aussagen im Zeitverlauf bei allen Parteifamilien zu, wobei in der aktuellen Phase (2010-heute) mit Spitzenwerten von 11.1% bzw. 11.4% das linke und das rechte Lager fast gleichauf liegen, während die Parteien der politischen Mitte und die liberalen Parteien etwas niedrigere Werte aufweisen. Bei den positiven Wortmeldungen hingegen bietet sich ein uneinheitliches Bild mit (leicht) steigenden Werten bei den linken und rechten Parteien sowie sinkenden Anteilen bei den liberalen Parteien und denjenigen der Mitte. Allerdings fallen die Unterschiede sehr gering aus und verbleiben über den gesamten Untersuchungszeitraum auf einem tiefen Niveau.

Alles in allem zeigt sich ein deutliches Bild: Der Themenbereich «Bürokratie» wird seit Beginn des Beobachtungszeitraums in den 1950er-Jahren parteiübergreifend konsequent negativ diskutiert, wobei die Intensität der Kritik im Zeitverlauf laufend zunimmt. Etwas überraschend kommt jedoch der hohe Anteil negativer Debattenbeiträge aus den linken Parteien. Zumal diese Kritik – zumindest anteilmässig – ausgeprägter ausfällt als diejenige der beiden bürgerlichen Parteifamilien im politischen Zentrum und sich nur die rechten Parteien noch ganz leicht negativer äussern.

5. Diskussion und Ausblick

Die durchgeführten Analysen haben aufgezeigt, wie sich der Diskurs in der Schweizerischen Bundesversammlung mit Bezug auf die «Bürokratie» zwischen 1950 und 2023 entwickelt hat. Dazu wurde nicht auf klassische qualitative Ansätze der historischen Diskursanalyse zurückgegriffen, sondern erstmals ein datengestützter quantitativer Ansatz unter Einbezug neuer NLP-Methoden angewandt.

Betreffend die erste Forschungsfrage des vorliegenden Artikels («Wie oft wurde im Parlament seit dem Jahr 1950 die Verwaltung bzw. die Bürokratie thematisiert?») lässt sich festhalten, dass im Bundesparlament die Bürokratie ziemlich oft thematisiert wird. Zu Beginn des Beobachtungszeitraums geschah dies in 3.5% aller Debattenbeiträge. Dieser Anteil hat jedoch laufend zugenommen und sich bis heute mehr als verdoppelt. Anteile von 7–8% klingen zunächst nicht nach viel. Führt man sich jedoch die Bandbreite an Themen vor Augen, die unter der Kuppel des Bundeshauses diskutiert werden, so stellt dies einen erstaunlich hohen Wert dar. Wie alle in diesem Beitrag präsentierten Ergebnisse handelt es sich auch hier um Befunde von in dieser Form erstmalig durchgeführten Auswertungen. Entsprechend gilt es, diese mit Vorsicht zu beurteilen; bevor breit abgestützte, verlässliche Resultate präsentiert werden können, sind weitere, vertiefende Analysen notwendig.

Mit Blick auf die zweite Forschungsfrage («Von welchen Parteien wurde das Thema wie oft angesprochen?») zeigt sich bei den drei bürgerlichen Parteigruppen ein Muster, das weitgehend dem generellen Verlauf folgt. Das Thema «Bürokratie» nimmt in den Wortmeldungen laufend mehr Platz ein, wobei ein deutliches Wachstum in der jüngsten Periode ab dem Jahr 2010 zu verzeichnen ist. Bei den linken Parteien hat das Thema hingegen seit den 1950er-Jahren leicht an Bedeutung verloren. Überraschend ist, dass das Thema bis in die 1970er-Jahre von den linken Parteien am häufigsten aufgebracht und erst nach dem Jahrtausendwechsel von den liberalen sowie den Parteien der politischen Mitte überholt wurde.

Die zur Beantwortung der dritten und vierten Forschungsfrage («Wie wurde über das Thema debattiert? Wurde die Verwaltung bzw. Bürokratie eher positiv oder eher negativ angesprochen?» und «Auf welche Weise – positiv oder negativ – haben die Parteien das Thema angesprochen?») Die durchgeführte Sentimentanalyse führt zu eindeutigen Ergebnissen. Mit Bezug auf die Bürokratie bzw. die Verwaltung dominieren die negativen Wortmeldungen sehr deutlich und ausnahmslos parteiübergreifend. Weiter nimmt der Anteil kritischer Debattenbeiträge während des gesamten Untersuchungszeitraums – einhergehend mit dem tatsächlich erfolgten Ausbau der Bundesverwaltung – kontinuierlich zu. Die vier im Abschnitt 2 genannten verwaltungspolitischen Leitbilder lassen sich hingegen kaum in den Ergebnissen wiederfinden. Einzig das ab den 1970er-Jahren gültige Leitbild des «schlanken Staates» zeigt sich sehr deutlich im starken Anstieg der negativen Nennungen zu diesem Zeitpunkt (vgl. Abbildung 6).

Da die durchgeführten Analysen auf explorativ-deskriptiven Ansätzen basierten, wurde auf die Formulierung expliziter Hypothesen verzichtet. Vor dem Hintergrund der generellen politischen und wirtschaftlichen Entwicklung der Schweiz seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden jedoch zwei allgemein gehaltene Erwartungen formuliert. So stand als erstes die Erwartung im Raum, dass die Bürokratie und ihre Funktion zu Beginn des Beobachtungszeitraums bis in die 1960er-Jahre eher positiv beurteilt wurden, da sie einer der zentralen Pfeiler war, auf denen der starke Modernisierungs- und Wachstumsschub der Schweiz in diesem Zeitraum beruhte. Ohne die Planung und Begleitung durch eine leistungsfähige Verwaltung wäre eine solche Entwicklung nicht möglich gewesen. Diese Erwartung hat sich jedoch nicht erfüllt. Auch wenn in den 1950er- und 1960er-Jahren die kritischen Wortmeldungen bei weitem noch nicht das Niveau der Jahre seit 2010 erreicht haben, so waren auch die Debatten mit Bürokratiebezug der 1950er-Jahre durchgehend von negativen Wortmeldungen dominiert. Das Verhältnis von 1:6 zwischen positiven und negativen Nennungen spricht diesbezüglich eine deutliche Sprache. Bestätigen lässt sich hingegen die zweite Erwartung, dass die Kritik an der Bürokratie ab den 1970er-Jahren stetig zunimmt und in den Jahren nach der Jahrtausendwende ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Dies entspricht exakt dem Bild, das die im Abschnitt 4 präsentierten Analysen wiedergeben.

Auch wenn der Beitrag deutlich das Potenzial aufzeigt, das in den quantitativen, computergestützten NLP-Ansätzen für historisch angelegte Forschungsfragen liegt, vermögen die präsentierten Analysen lediglich ein erstes und noch sehr oberflächliches Bild des parlamentarischen Bürokratie-Diskurses seit 1950 zu zeichnen. Die künftige Forschung sollte zusätzliche Anstrengungen unternehmen, um die Datenlage zu verbessern, sodass auch die Debatten der Jahre 1996–1998 integriert werden können. Zudem stellt der Umstand, dass die Sentiment-Analyse nur für deutschsprachige Debattenbeiträge vorgenommen werden konnte, aktuell eine Schwäche dar. Um die konzeptionelle und analytische Tiefe künftiger Studien zu verbessern, sollte zudem der thematische Kontext der Begriffsnennungen in die Analysen einbezogen werden. Dazu bieten gleich mehrere der präsentierten Ergebnisse Ansatzpunkte – sowohl für zukünftige qualitative Untersuchungen als auch für weitere quantitative Analysen. Dazu könnten Fallstudien betreffend spezifische Ereignisse (z.B. die «Mirage»-Affäre) gehören, aber auch breiter angelegte Studien, die untersuchen, in welchen Debatten und Politikbereichen die Bürokratie thematisiert wurde. Dass die linken und nicht etwa die bürgerlichen Parteien bis in die 2000er-Jahre die höchsten Anteile an negativ konnotierten Äusserungen zur Bürokratie aufweisen, kommt als Befund überraschend und verdient eine tiefergehende Abklärung, die sich der Frage annimmt, inwiefern sich eine linke und eine rechte Bürokratie-Kritik inhaltlich unterscheiden. An dieser Stelle drängen sich auch weitere Abklärungen zur Frage auf, ob sich die Kritik je nach parteipolitischer Perspektive auf unterschiedliche Politikbereiche konzentriert (z.B. Armee, Landwirtschaft oder Asylwesen). Ein zusätzlicher Ansatzpunkt für weitere qualitative Studien könnte der kurzfristige, aber markante Rückgang der kritischen bürokratiebezogenen Debattenbeiträge im Fall der linken und rechten Parteien in den 2000er-Jahren darstellen.

Mit Blick auf den gewählten methodischen Ansatz ist abschliessend festzustellen, dass sich das Embed2discover-Modell bewährt hat. Es wurde erstmals im Rahmen einer umfassenden Analyse (sämtliche Wortprotokolle der Bundesversammlung seit 1950 mit über 6.2 Mio. einzelnen Sätzen in drei Sprachen) eingesetzt und war in der Lage, mit grosser Effizienz bezüglich des personellen Ressourcenbedarfs und der Rechenkapazität inhaltlich valide und plausible Ergebnisse zu liefern. Doch auch hier gibt es noch Verbesserungspotenzial, was die Qualität des Trainings des Algorithmus oder die Klassifikationen zur Erstellung des Wörterbuchs sowie der Sentimentanalysen betrifft, die von künftigen Projekten realisiert werden sollten.

Anhang

ssas-16-1-234-g8.png
Anhang 1

Evaluation der embed2discover Codierung.

Notes

[1] Der Begriff der «epistemic community» geht auf Peter M. Haas aus dem Jahr 1992 zurück und bezeichnet Netzwerke von Expertinnen und Experten, die politische Entscheidungsprozesse durch geteiltes Fachwissen, normative Überzeugungen und gemeinsame Problemdefinitionen prägen (Haas 1992).

[2] Für Details zum DemocraSci-Projekt vgl. https://brandenbergerlaurence.com/democrasci/.

Informationen über die Finanzierung

Die Arbeiten von Brandenberger und Schlosser wurden finanziell unterstützt durch das ETH-Forschungsprojekt “MappingDemocraSci” (Swiss Data Science Center, 2025–2027)

Interessenkonflikte

Die Autoren erklären, dass keine Interessenkonflikte bestehen.

DOI: https://doi.org/10.5334/ssas.234 | Journal eISSN: 2632-9255
Language: German
Submitted on: Aug 8, 2025
Accepted on: Nov 27, 2025
Published on: Dec 18, 2025
Published by: Ubiquity Press
In partnership with: Paradigm Publishing Services
Publication frequency: 1 issue per year

© 2025 Jan Fivaz, Daniel Schwarz, Laurence Brandenberger, Sophia Schlosser, Thomas Gees, Christian Geiger, published by Ubiquity Press
This work is licensed under the Creative Commons Attribution 4.0 License.