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Schreiben Gemeinden voneinander ab? Ein Vergleich von kommunalen Energie- und Klimastrategien Schweizer Gemeinden Cover

Schreiben Gemeinden voneinander ab? Ein Vergleich von kommunalen Energie- und Klimastrategien Schweizer Gemeinden

By: Kim Whett  
Open Access
|Oct 2024

Full Article

1. Einleitung

Im Juni 2023 hat das Schweizer Stimmvolk mit 59.1 Prozent das Klima- und Innovationsgesetz (KIG) deutlich angenommen. Dieses Gesetz trägt neben der nationalen Energiestrategie 2050 wesentlich dazu bei, dass die Schweiz ihre energiebedingte Umweltbelastung reduziert. Das KIG verlangt den schrittweisen Ausstieg aus den fossilen Energien und fordert, dass die Schweiz bis 2050 klimaneutral wird (BK 2023). Nicht nur der Bund, sondern auch eine Mehrheit der Kantone möchte klimaneutral werden. Dafür haben sie eigens kantonale Energie- und Klimastrategien erarbeitet sowie ambitionierte Netto-Null-Ziele formuliert. Beides zielt darauf ab, dass Städte und Gemeinden mitziehen und ebenfalls Energie- und Klimastrategien formulieren. Hinzu kommt, dass kommunale Energie- und Klimastrategien wichtige Instrumente von Städten und Gemeinden sind, um ihre nachhaltige Entwicklung zu steuern. Sie definieren darin Ziele und geben die Stossrichtung in energie- und klimarelevanten Themenfeldern (z.B. Energieversorgung, Mobilität, Konsum) vor. Die Ziele können sich zwischen den Städten und Gemeinden stark unterscheiden, insbesondere in Bezug auf ihre Ambitionen.

Diese Forschungsarbeit stellt die Frage, wie ambitionierte Energie- und Klimastrategien über die Zeit entstehen und ob kleine Gemeinden in der Schweiz grosse Gemeinden dabei nachahmen. Nachahmungsprozesse spielen im Neo-Institutionalismus bei der Entstehung neuer Praktiken eine entscheidende Rolle, was die Forschungshypothese inspiriert und bereits umfassend erforscht ist. Beispielweise beschäftigen sich auf kommunaler Ebene Abel (2021), Corcaci und Kemmerzell (2023), Kern, Eckersley, und Haupt (2023) sowie Schmidt und Wagner (2023) mit Nachahmungsprozessen im Energie- und Klimabereich in Deutschland. Andere führten ein ähnliches Forschungsvorhaben in Schweden (Lindvall 2023), den USA (An et al. 2023; Zeemering 2012) oder Japan (Nakazawa et al. 2023) durch. Obschon Nachahmungsprozesse in der Schweiz auf kantonaler Ebene schon früh nachgewiesen wurden (Gilardi und Füglister (2008) und Füglister (2012) in der Gesundheitspolitik sowie Strebel (2011) in der Energiepolitik), untersuchte kein recherchierter Forschungsbeitrag Nachahmungsprozesse in der Schweizer Energie- und Klimapolitik auf kommunaler Ebene. Dies ist insofern von Bedeutung, als ein besseres Verständnis der Entstehung von kommunalen Energie- und Klimastrategien dazu beitragen kann, Gemeinden und Städte gezielter in der Umsetzung der Energiewende zu unterstützen, indem Unterstützungsprozesse Nachahmungseffekte stärker berücksichtigen.

Zunächst (Abschnitt 2) wird die Forschungshypothese aus einer neo-institutionalistischen Perspektive hergeleitet und auf alternative Erklärungen eingegangen. Anschliessend (Abschnitt 3) wird der aktuelle Forschungsstand aufgearbeitet und die Daten sowie die Methodik (Abschnitt 4) vorgestellt. Als Datengrundlagen dienten Zeitreihendaten von 472 Gemeinden, die dem Energiestadt-Label beigetreten sind, sowie drei halbstandardisierte Expert:inneninterviews. Als Methodik fungierte das erklärende sequentielle Design aus den Mixed Methods, in dem zunächst die Zeitreihendaten deskriptiv ausgewertet und danach mit den Expert:innen diskutiert wurden. Die quantitativen Resultate (Abschnitt 5) zeigen, dass die Energie- und Klimastrategien über die Zeit ambitionierter werden, lassen eine Nachahmung aber offen. Demgegenüber deuten die qualitativen Resultate (Abschnitte 6) darauf hin, dass Nachahmungseffekte bei Peer-Gemeinden existieren, nicht aber bei Gemeinden unterschiedlicher Grösse. Zudem zeigen sie, dass einwohnerreiche und politisch links-orientierte Gemeinden ambitioniertere Energie- und Klimastrategien formulieren. Abschliessend (Abschnitt 7) werden die Resultate zusammengefasst und diskutiert.

2. Theorie und Hypothesen

Der Neo-Institutionalismus argumentiert, dass beim Entstehen neuer Praktiken, was die Entwicklung einer Energie- oder Klimastrategie umschliesst, Nachahmungseffekte eine entscheidende Rolle spielen (DiMaggio und Powell 1983; Rogers 1983). Denn Verterter:innen dieser Theorieströmung gehen davon aus, dass Akteur:innen in einen sozialen Kontext eingebettet sind und mit anderen in Wechselwirkung stehen. DiMaggio und Powell (1983) wenden diese Perspektive auf Organisationen an und argumentieren, dass Organisationen, die ähnliche Dienstleistungen oder Produkte herstellen, sich in einem gemeinsamen Feld bewegen. Neben ähnlichen Organisationen zählen DiMaggio und Powell (1983) auch wichtige Lieferant:innen, Konsument:innen oder Regulierungsbehörden dazu. Das organisationale Feld bezieht sich also auf eine Gemeinschaft von Organisationen, die in einem abgegrenzten Bereich miteinander in Beziehung stehen und gemeinsam anerkannte Strukturen und Praktiken bilden. Diese wechselseitigen Beziehungen führen wiederum zu einer Strukturangleichung (Isomorphie).

Einen ähnlichen Ansatz verfolgt Rogers (1983) mit seiner Diffusionstheorie, die sich auf die Verbreitung von Innovationen bzw. neuen Praktiken konzentriert. Im Unterschied zu DiMaggio und Powell (1983) setzt Rogers (1983) den Fokus auf den Diffusionsprozess und beschreibt fünf Phasen für die Übernahme einer Innovation (Wissen, Überlegung, Entscheidung, Umsetzung und Bestätigung). Di Maggio und Powell (1983) richten ihren Blick eher auf die Organisationen und interessieren sich dafür, welche Mechanismen zu einer Strukturangleichung führen. Dabei unterscheiden sie zwischen drei Mechanismen der Isomorphie: Isomorphie durch Zwang, durch normativen Druck und durch mimetische Prozesse (DiMaggio und Powell 1983). Eine Isomorphie durch Zwang kann von anderen Organisationen oder von kulturellen Erwartungen ausgehen (DiMaggio und Powell 1983). Man kann sich beispielsweise vorstellen, dass die Gemeinden seitens des Bundes oder der Kantone in die Pflicht genommen werden, kurz-, mittel- oder langfristige Energie- und Klimastrategien zu erarbeiten. Eine Isomorphie durch normativen Druck begründet sich in der Professionalisierung (DiMaggio und Powell 1983). Damit ist gemeint, dass sich mit einer voranschreitenden Professionalisierung von Akteur:innen oder Organisationen bestimmte Normen, Techniken, Verhaltensweisen und Standards entwickeln, die als angemessen gelten. Organisationen streben danach, diese Standards zu erfüllen. Eine Isomorphie durch mimetische Prozesse beschreibt die Angleichung der Organisationen bei unsicheren Gegebenheiten (DiMaggio und Powell 1983) und kann als Reaktion von Organisationen auf Unsicherheit aufgefasst werden. Diese Reaktion besteht in der gegenseitigen Nachahmung. Unsicherheit kann für eine kleine Gemeinde beim erstmaligen Entwerfen einer Energie- oder Klimastrategie existieren. Kleine Gemeinden ahmen die grossen Gemeinden nach, die schon eine Energie- oder Klimastrategie ausgearbeitet haben. Daraus lässt sich die Nachahmungshypothese ableiten:

«Kleine Gemeinden, gemessen an ihrer Einwohner:innenzahl, orientieren sich bei der Entwicklung ihrer Energie- und Klimastrategien an grossen Gemeinden oder Städten.»

Energie- und Klimastrategien werden als umfassende1 und langfristige Pläne betrachtet, die (konkrete) Zukunftsvorstellungen in Form von Energie- und Klimazielen sowie festgelegten Massnahmen zur Erreichung dieser Ziele enthalten. Diese Definition lehnt sich an Mintzbergs (1987) Konzept von «Strategy as Plan» an. Eine Energie- und Klimastrategie kann des Weiteren ambitioniert sein, wenn sie ehrgeizige und fortschrittliche Energie- und Klimaziele beinhaltet. Beispielsweise werden Netto-Null-Forderungen als ambitioniert verstanden. Die Nachahmungsprozesse können positiv oder negativ ausfallen. Positiv sind sie dann, wenn die Energie- und Klimaziele über die Zeit immer ambitionierter und von Nachahmer-Gemeinden übernommen werden. Negativ wirken sie hingegen, wenn eine Gemeinde ihre Energie- und Klimaziele nach unten korrigiert und dadurch eine Race-to-the-Bottom-Dynamik anstösst. Es wird aber davon ausgegangen, dass positive Nachahmungsprozesse überwiegen und Gemeinden zusehends ambitioniertere Energie- und Klimastrategien definieren.

Grosse Gemeinden schreiten also voran und geben sich ambitionierte Energie- und Klimastrategien, die wiederum von kleinen Gemeinden nachgeahmt werden. Mithilfe der Energie- und Klimastrategie Performance (EKP) wird versucht, die oben erwähnte Ambition einer Energie- und Klimastrategie zu messen. Der Zusammenhang zwischen der Grösse einer Gemeinde und der EKP ist in Abbildung 1 dargestellt.

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Abbildung 1

Erklärungsmodell, dargestellt als Pfeildiagramm.

Der Zusammenhang ist auch durch eine betriebswirtschaftliche Perspektive begründbar. Barney (1991) entwickelte die Grundlagen des ressourcenbasierten Ansatzes, der davon ausgeht, dass Organisationen durch den Besitz und die Nutzung wertvoller, seltener, nicht-imitier- und nicht-substituierbarer Ressourcen anhaltende Wettbewerbsvorteile erzielen und dadurch über mehr Möglichkeiten verfügen. Auf dieses Forschungsvorhaben übertragen, bedeutet dies, dass grosse, einwohnerreiche Gemeinden über mehr absolute finanzielle Ressourcen verfügen, da sie mehr Steuersubstrat generieren als kleine, einwohnerarme Gemeinden. Dies stellt insofern einen Wettbewerbsvorteil dar, als mehr finanzielle Mittel mehr Investitionsmöglichkeiten oder umfassendere Dienstleistungen bedeuten und mit Skaleneffekten einhergehen: Zum Beispiel wird der Bau einer Photovoltaikanlage mit dem Projektvolumen kosteneffizienter, was unter anderem auf die Modulgrösse, Standortvorteile oder Mengenrabatte zurückgeführt werden kann (Göllinger 2022). Für grosse Gemeinden bedeutet dies, dass sie dadurch eher in der Lage sind, (ambitionierte) Energie- und Klimastrategien zu entwickeln.

Alternative Erklärungen

Abgesehen von Nachahmungseffekten und den absoluten finanziellen Ressourcen ist es zum einen plausibel, dass kleine Gemeinden genauso ambitionierte Energie- und Klimastrategien entwickeln wie grosse Gemeinden. Beispielhaft hierfür ist die Gemeinde Hohentannen im Kanton Thurgau, die 660 Einwohner:innen zählt (BFS 2023a). In Hohentannen wird ein Drittel des gesamten Stromverbrauchs durch Photovoltaik gedeckt und etwa drei Viertel der Heizungen nutzen einheimisches Holz. (Stünzi 2017). In diesem Fall wäre es interessant zu ermitteln, ob dies auf «interne Faktoren» wie das steuerbare Einkommen pro Kopf einer Gemeinde zurückzuführen ist. Dieser Faktor wird im Folgenden als die relativen finanziellen Ressourcen bezeichnet. Ein Beispiel hierfür ist die Gemeinde Mörschwil im Kanton St. Gallen, die über hohe relative finanzielle Ressourcen verfügt (110’200 CHF steuerbares Einkommen pro Kopf) und mit 3600 Einwohner:innen als periurbane Gemeinde mittlerer Dichte gilt (BFS 2023a, 2023b, 2024). Mörschwil ist zudem Mitglied des Energiestadt-Labels, hat ein kommunales Energie-Monitoring durchgeführt, strebt im Konzept «Generationen in Mörschwil» eine nachhaltige Entwicklung an und bekennt sich zur Agenda 2030 (Energieagentur St. Gallen 2022; OZG 2022).

Zum anderen ist es genauso plausibel, dass die politische Orientierung der Bevölkerung die Gemeinde beeinflusst. Die Empirie zeigt, dass politisch links-orientierte Menschen umweltbewusst sind und handeln (Diekmann und Preisendörfer 2001). Des Weiteren könnten auch «externe Faktoren» Ursache für ambitionierte Energiestrategien sein. Einerseits könnten übergeordnete Vorgaben (Bund oder Kanton) kommunale Energie- und Klimastrategien beeinflussen. Beispielsweise sind die Kantone unterschiedlich weit in der Umsetzung der «Mustervorschriften der Kantone im Energiebereich» (EnDK 2023), die den Energieverbrauch im Schweizer Gebäudesektor mit ehrgeizigen Vorschriften senken möchten (EnDK 2022). Andererseits ist es plausibel, dass Beratungsunternehmen Einfluss auf kommunale Energie- und Klimastrategien nehmen, indem sie den Gemeinden unterschiedlich ambitionierte Vorschläge unterbreiten. Die alternativen Erklärungen2 sind ebenfalls in Abbildung 1 dargestellt.

3. Forschungsstand

Nachahmungsprozesse von öffentlichen Institutionen sind in der Energie- und Klimapolitik bereits gut erforscht. Eine mögliche Systematik ist hinsichtlich der Betrachtungsebene (kommunal, kantonal, national) zu finden, wobei der Grossteil der recherchierten Forschungsbeiträge Nachahmungseffekte auf kommunaler Ebene untersucht (Abel 2021; An et al. 2023; Buzási et al. 2024; Corcaci und Kemmerzell 2023; Hakelberg 2014; Kern und Bulkeley 2009; Kern et al. 2023; Lindvall 2023; Nakazawa et al. 2023; Schmidt und Wagner 2023; Schoenefeld et al. 2023; Schoenefeld, Schulze, und Bruch 2022; Zeemering 2012). Hinzu kommen Forschungsbeiträge auf kantonaler bzw. State-Ebene3 (Nicholson-Crotty und Carley 2018; Strebel 2011) sowie auf nationaler Ebene (Baldwin, Carley, und Nicholson-Crotty 2019; Bössner et al. 2020; Linsenmeier, Mohommad, und Schwerhoff 2023; Motta 2018). Eine Übersicht der identifizierten Forschungsbeiträge findet sich im Anhang A.

Abel (2021) begleitete zwischen 2008 und 2016 396 Gemeinden im Bundesland Nordrhein-Westfalen (Deutschland) und ging der Frage nach, inwiefern die geografische Nähe, eine ähnliche politische Orientierung sowie transnationale Städtenetzwerke die Übernahme von Klimaschutzkonzepten beeinflussen. Er wies in seinen Untersuchungen nach, dass Nachbarsgemeinden sich gegenseitig nachahmen, was mit den Befunden von anderen Forschungsbeiträgen einhergeht (An et al. 2023; Kern et al. 2023; Lindvall 2023; Zeemering 2012). Abel (2021) fand ausserdem Indizien, dass Klimapioniere resp. Gemeinden, die im Klimaschutz führend sind, Nachzügler anregen und so eine Race-to-the-Top-Dynamik anstossen und dass Exekutivmitglieder der gleichen Partei sich gegenseitig beeinflussen. Schliesslich argumentiert er, dass sich eine Mitgliedschaft in einem Städtenetzwerk positiv auf die Übernahme von Klimaschutzkonzepten auswirkt. Ähnliche Untersuchungen bestätigen dies (Buzási et al. 2024; Corcaci und Kemmerzell 2023; Hakelberg 2014; Kern und Bulkeley 2009; Lindvall 2023; Schmidt und Wagner 2023; Schoenefeld et al. 2022). Die Autor:innen erklären sich dies zum einen mit einem besseren Zugang zu relevanten Informationen (Abel 2021; Corcaci und Kemmerzell 2023; Lindvall 2023) und zum anderen damit, dass Städtenetzwerke Gemeinden und Städte dazu bringen, Verpflichtungen einzugehen und entsprechende politische Praktiken zu implementieren (Hakelberg 2014). Eine zusätzliche Differenzierung nehmen Nakazawa et al. (2023) vor, die eine Variation der Triebkräfte bei Nachahmungsprozessen feststellen und argumentieren, dass in der Anfangsphase interne Faktoren wie die Beteiligung an Städtenetzwerken, die personellen und finanziellen Ressourcen oder die politische Führung entscheidend für die Verbreitung von politischen Praktiken sind, und externe Faktoren wie die Erklärung von Nachbarstädten oder kantonale4 Vorgaben erst später eine Rolle spielen.

Auf kantonaler Ebene haben Forschende ebenfalls Nachahmungseffekte identifiziert. Nicholson-Crotty und Carley (2018) untersuchten in den USA den Einfluss von Peer-States auf die Übernahme von energiepolitischen Praktiken und kamen wie Abel (2021) zum Schluss, dass geografische und ideologische Nähe ein wichtiger Faktor ist. Strebel (2011) hatte ein ähnliches Forschungsvorhaben in der Schweiz und hielt fest, dass die Kantone in interkantonalen Konferenzen zusammenarbeiten und diese eine wesentliche Rolle bei der Diffusion von energiepolitischen Massnahmen spielen. Denn sie ermöglichen es den Kantonen, von den Erfahrungen anderer zu lernen und innovative Lösungen zu übernehmen.

Auf nationaler Ebene haben Baldwin et al. (2019) Nachahmungseffekte zwischen mehreren Ländern untersucht und dabei ihren Fokus nicht nur auf Industriestaaten, sondern auch auf Entwicklungsländer gelegt. Ähnlich wie die Untersuchung von Nicholson-Crotty und Carley (2018) resümieren sie, dass beide Ländergruppen dazu tendieren, die Politiken ihrer politischen Peers nachzuahmen (Baldwin et al. 2019). Ein ähnliches Bild zeichnen Linsenmeier et al. (2023), die in ihrer Untersuchung aufzeigen konnten, dass die Einführung von Kohlenstoffpreisen in einem Land die nachfolgende Einführung in anderen Ländern erklären kann, insbesondere in Nachbarländern. Einen Schritt weiter gehen Bössner et al. (2020), die zum Schluss kommen, dass die untersuchten Länder (Peru, Uganda und Thailand) die Politiken ihrer Peers nicht nur kopieren, sondern an die lokalen Bedingungen anpassen (Bössner et al. 2020).

Abschliessend kann festgehalten werden, dass die Erforschung von Nachahmungsprozessen in der Energie- und Klimapolitik etabliert ist. Dabei stellt der recherchierte Forschungsgegenstand auf kommunaler Ebene insbesondere Deutschland (Abel 2021; Corcaci und Kemmerzell 2023; Kern et al. 2023; Schmidt und Wagner 2023) dar. Ähnliche Forschungsvorhaben gab es in Schweden (Lindvall 2023), den USA (An et al. 2023; Zeemering 2012) und Japan (Nakazawa et al. 2023) sowie länderübergreifend innerhalb der EU (Buzási et al. 2024; Hakelberg 2014; Kern und Bulkeley 2009; Schoenefeld et al. 2023). Hingegen beschäftigte sich bisher kein recherchierter Forschungsbeitrag mit der kommunalen Ebene in der Schweiz.

4. Daten und Methodik

Das Forschungsdesign orientiert sich an den Mixed Methods, genauer: am «erklärenden sequentiellen Design» (Creswell und Plano Clark 2018), auch bekannt als «qualitatives Follow-Up Design» (Plano Clark und Ivankova 2016). Es handelt sich hierbei um ein sequentielles Forschungsdesign, in dem auf eine quantitative Auswertung eine qualitative folgt, wobei der Fokus auf der quantitativen Auswertung liegt (Plano Clark und Ivankova 2016). Creswell und Plano Clark (2018) definieren vier Phasen dieses Designs. Zuerst erfolgt eine quantitative Phase, die das Sammeln und Analysieren von numerischen Daten umfasst. Daran schliesst die zweite Phase an, in der spezifische quantitative Resultate identifiziert werden, die eine zusätzliche, qualitative Erklärung benötigen. Darauf folgt drittens eine qualitative Phase, die das Sammeln und Analysieren von qualitativen Daten beinhaltet. Abgeschlossen wird viertens mit der Interpretation der quantitativen und qualitativen Resultate. In der Abbildung 2 ist das Forschungsdesign als Flussdiagramm dargestellt und nach den beschriebenen Phasen gegliedert.

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Abbildung 2

Methodisches Vorgehen, dargestellt als Flussdiagramm (adaptiert von Creswell und Plano Clark 2018).

Das angewendete Forschungsdesign bietet sich aus zwei Gründen an. Erstens gilt das erklärende sequentielle Design in der Implementierung als zielgerichtet (Creswell und Plano Clark 2018). Zweitens liegt die Stärke von Mixed Methods in der methodischen Triangulation, was zu valideren Schlussfolgerungen führt, da ein Phänomen sowohl aus einer quantitativen als auch aus einer qualitativen Perspektive betrachtet wird (Plano Clark und Ivankova 2016).

Das Energiestadt-Label

Zur Prüfung der Forschungshypothese dienten Daten des Energiestadt-Labels, die der Trägerverein Energiestadt zur Verfügung stellte. Der Trägerverein Energiestadt (2024b) versteht sich als Kompetenzzentrum für lokale Energie- und Klimapolitik und unterstützt Gemeinden bei der Umsetzung von Projekten in den Bereichen Energie, Klima, Verkehr und Umwelt.

Akkreditierte Energiestadtberater:innen des Trägervereins Energiestadt (2024a) bewerten die Gemeinden in sechs erforderlichen (Entwicklungsplanung und Raumordnung, kommunale Gebäude und Anlagen, Ver- und Entsorgung, Mobilität, interne Organisation sowie Kommunikation und Kooperation) und einem optionalen Bereich (Anpassung an den Klimawandel). Für jeden Bereich sind zwischen sechs (interne Organisation) und elf (kommunale Gebäude und Anlagen sowie Kommunikation und Kooperation) Massnahmen definiert, welche im Massnahmenkatalog 2017 festgehalten sind (Trägerverein Energiestadt 2020). Insgesamt werden 56 Massnahmen in den sechs erforderlichen Bereichen bewertet. Pro Massnahme können wiederum zwischen 4 und 15 Punkte sowie insgesamt 497 Punkte erreicht werden. Die Zielsetzung der Massnahmen ist jeweils ausformuliert (vgl. Tabelle 1). Wenn eine Gemeinde die ausformulierte Zielsetzung nicht erreicht, erhält sie entweder keine oder nur Teilpunkte. Erreicht eine Gemeinde 50 Prozent der Gesamtpunktzahl, erhält sie das Energiestadt-Label, bei 75 Prozent wird sie zusätzlich als «Energiestadt Gold» bezeichnet. In beiden Fällen wird sie auditiert (Interview Trägerverein Energiestadt 2023). Damit die Vergleichbarkeit zwischen den Bewertungen der Energiestadtberater:innen gewährleistet ist, führt der Trägerverein jährliche Workshops durch, um die Bewertenden zu eichen (Interview Trägerverein Energiestadt 2023).

Tabelle 1

Massnahmen für die Energie- und Klimastrategie Performance (Trägerverein Energiestadt 2020).

MASSNAHMEPUNKTEZIELSETZUNG DER MASSNAHME
Energie- und Klimaziele6Die Gemeinde verfügt über ein verbindliches Leitbild mit ambitionierten qualitativen und quantifizierten Zielen für die Energie-, Klima- und Verkehrspolitik.
Energie- und Klimakonzept respektive -strategie6Die Gemeinde konkretisiert das Leitbild resp. die energie- und klimapolitischen Zielsetzungen mit konkreten kurz-, mittel- und langfristigen Vorgaben für die Gemeindeaktivitäten und die Planungsinstrumente.
Bilanz, Indikatorensysteme10Die Gemeinde verfügt über eine Energie- und Klimabilanz für das ganze Gemeindegebiet respektive über ein Indikatorenset zur Steuerung der Energie- und Klimapolitik.

Die Energie- und Klimastrategie Performance (EKP) berechnet sich aus den drei Massnahmen «Energie- und Klimaziele», «Energie- und Klimakonzept respektive -strategie» sowie «Bilanz, Indikatorensysteme und Absenkpfade» des Bereichs «Entwicklungsplanung und Raumordnung», in dem der Mittelwert über diese drei Massnahmen gebildet wird (vgl. Tabelle 1).

Quantitative Daten

Im vorliegenden Energiestadt-Sample befinden sich rund 650 Energiestadt- und Trägervereinsmitglieder, die sich in Gemeinden und Gemeindeverbunde5 aus der Schweiz und Liechtenstein aufteilen. Gemeindeverbunde und Gemeinden aus dem Liechtenstein wurden in der Analyse nicht berücksichtigt. Zudem schieden die Gemeinden aus dem Sample, wenn sie einerseits fusioniert haben, da die Punktzahlen für fusionierte Gemeinden nur teilweise vorhanden sind. Andererseits wurden Gemeinden aus Datenqualitätsgründen nicht berücksichtigt, wenn sie weder das Zertifizierungslevel «Energiestadt» noch das Level «Energiestadt Gold» erreichten. Grund dafür ist, dass Gemeinden erst ab dem «Energiestadt»-Level auditiert werden. Unter einem Wert von 50 Prozent sind die Gemeinden lediglich Mitglied des Trägervereins und durchlaufen kein Audit. Die Gesamtwertung ist daher weniger verlässlich (Interview Trägerverein Energiestadt 2023). Für die quantitative Analyse blieben Zeitreihendaten von 472 Gemeinden im Sample übrig. Da die Gemeinden im Abstand von vier Jahren verpflichtet sind, ein (Re-)Audit durchzuführen, liegen für jede Gemeinde Zeitreihendaten im Abstand von ungefähr vier Jahren vor. Dieser Erhebungsrhythmus hat zur Folge, dass auf Gemeindeebene die Datenlage spärlich ist: im Durchschnitt lagen für den Untersuchungszeitraum von 2012 bis 2022 zwei EKP-Scores je Gemeinde vor.

Das Energiestadt-Sample umfasst 22 Prozent aller Schweizer Gemeinden, wobei diese Gemeinden 2022 61 Prozent6 der ständigen Wohnbevölkerung in der Schweiz repräsentieren. Zudem sind im Sample Gemeinden verschiedener Grössen, politischer Orientierung und aller Sprachregionen vertreten (vgl. Anhang B).

Neben der EKP ergänzen die vier folgenden Makrovariablen den Datensatz:

  • Erstens dient die Einwohner:innenzahl von 2022 (BFS 2023a) als Unterscheidungsmerkmal, um zwischen kleinen und grossen Gemeinden zu unterscheiden.

  • Zweitens wird die politische Orientierung anhand der Parteistärke der Schweizerischen Volkspartei (SVP) an den Nationalratswahlen von 2015 gemessen (BFS 2019).

  • Die relativen finanziellen Ressourcen werden drittens durch das durchschnittliche steuerbare Einkommen pro Kopf von 2019 (BFS 2023b) erhoben

  • und die Kantonszugehörigkeit wird viertens über die Postleitzahl ermittelt.

Der Einfluss des Beratungsunternehmens auf die EKP, wie es im Erklärungsmodell (Abbildung 1) ersichtlich ist, konnte quantitativ nicht gemessen werden, da für die Messung keine geeigneten Daten zur Verfügung standen. Im Datensatz waren nicht die Berater:innen angegeben, die die Gemeinden beim Erstellen ihrer Energie- oder Klimastrategien begleitet haben, sondern jene, die die Gemeinden durch den Bewertungsprozess führten (Interview Trägerverein Energiestadt 2023).

Quantitative Analyse

Die 472 Gemeinden wurden deskriptiv und nach ihrer Kantonszugehörigkeit sowie nach den drei anderen Makrovariablen auf zwei unterschiedliche Vorgehensweisen geclustert und über die Zeit dargestellt. Einerseits fand eine «technische» Clusterung statt, die die Gemeinden in gleich grosse Gruppen (entweder Quintile oder Drittel) einteilt (vgl. Anhang B). Andererseits sind die Gemeinden «inhaltlich» geclustert. Dafür wurde für jede Makrovariable ein Histogramm erstellt und die Gemeinden aufsteigend sortiert. Dabei wurde versucht, inhaltlich gleiche Gruppen zu identifizieren (vgl. Anhang C).

Qualitative Daten

Die qualitativen Daten stammen aus drei Interviews mit Expert:innen, die zwischen dem 17. und 27. November 2023 stattfanden, ca. eine Stunde dauerten und alle nach dem gleichen Interviewleitfaden (vgl. Anhang D) verliefen. Der Leitfaden gliedert sich in zwei Teile. Im ersten Teil gaben die Interviewees Auskunft über ihre Tätigkeiten und Erfahrungen als Energie- und Klimastrategieexpert:innen. Im zweiten Teil bewerteten sie die quantitativen Resultate.

Im ersten Interview wurde eine Person befragt, die mehrere Kantone bei der Entwicklung von Energie- und Klimastrategien begleitet hat. Das zweite Interview fand mit einer Person statt, die über mehrjährige Erfahrung in der Beratung von Gemeinden bei der Entwicklung von Klimastrategien verfügt. Schliesslich wurde das dritte Interview mit einer Person des Bundesamtes für Energie (BFE) geführt, die unter anderem als Ansprechpartner:in für das Energiestadt-Label seitens des Bundes fungiert.

Qualitative Analyse

Die qualitative Analyse umfasst die Auswertung der drei Expert:inneninterviews, in der zunächst die relevanten Aussagen markiert und danach in Beziehung zueinander sowie in Beziehung zu den quantitativen Resultaten gesetzt wurden. Die Aussagen sind in der Analyse anonymisiert, da es für die Beantwortung der Forschungsfrage nicht relevant ist, von wem die Aussage stammt.

5. Quantitative Resultate

In den folgenden Abbildungen ist die EKP (Y-Achse) jeweils über den Zeitraum 2012 bis 2022 (X-Achse) dargestellt. Die EKP bewegt sich zwischen 0 und 1, wobei 1 eine sehr ambitionierte Energie- und Klimastrategie bedeutet (vgl. Abschnitt 4 «Daten und Methodik»).

Aus der Abbildung 3 geht hervor, dass über das ganze Sample seit 2012 eine leichte Zunahme der EKP festzustellen ist. Anders gesagt: Seit 2012 formulieren die Energiestadt-Gemeinden immer ambitioniertere Energie- und Klimastrategien.

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Abbildung 3

Entwicklung der EKP. Mittelwert des Energiestadt-Sample.

Die anderen Abbildungen zeigen ebenfalls einen Zeitverlauf, die Gemeinden sind aber nach der Einwohner:innenzahl, politischer Orientierung, steuerbarem Einkommen oder Kantonszugehörigkeit geclustert und unterschieden sich nach technischen und natürlichen Grenzen. Die Linien, die in den Abbildungen ersichtlich sind, repräsentieren jeweils ein Cluster bzw. eine Gruppe von Gemeinden.

In den Abbildungen 4 und 5 sind die Gemeinden nach ihrer Einwohner:innenzahl geclustert, wobei in Abbildung 4 die Clusterung nach den technischen Grenzen und in Abbildung 5 nach den natürlichen Grenzen erfolgte. In beiden Abbildungen ist eine aufsteigende Schichtung nach der Einwohner:innenzahl ersichtlich. In Abbildung 4 liegen die beiden grösseren Gemeindegruppen G4 und G5 über den beiden kleineren Gemeindegruppen G1 und G2. In Abbildung 5 konkretisiert sich dieser Zusammenhang und die grösste Gemeindegruppe «nationale Zentren» bricht deutlich nach oben aus, gefolgt von der zweitgrössten Gemeindegruppe, den «regionalen Zentren». In anderen Worten: Mit zunehmender Grösse der Gemeinde steigt die EKP. Diese Beobachtung stärkt die Nachahmungshypothese, bestätigt sie aber nicht. Denn dafür bräuchte es über alle Gemeindegruppen hinweg eine ähnliche und über die Zeit versetzte Entwicklung.

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Abbildung 4

Gemeinden geclustert nach ihrer Einwohner:innenzahl – technische Grenzen.

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Abbildung 5

Gemeinden geclustert nach ihrer Einwohner:innenzahl – natürliche Grenzen.

Die Clusterung nach der politischen Orientierung (vgl. Anhang E: Abbildung E1 und Abbildung E2) zeigt in beiden Abbildungen eine absteigende Schichtung nach den SVP-Wähleranteilen, wobei dieser Zusammenhang in Abbildung E2 (natürliche Grenzen) deutlicher ist. In Abbildung E2 haben mitte-rechts-orientierte Gemeinden (SVP-Wähleranteil an den Nationalratswahlen 2015 zwischen 35 und 45 Prozent) und rechts-orientierte Gemeinden (Wähleranteil mehr als 45 Prozent) eine klar tiefere EKP als links- (Wähleranteil weniger als 15 Prozent) und mitte-links-orientierte Gemeinden (Wähleranteil zwischen 15 und 22.5 Prozent). Anders gesagt: Politisch links-orientierte Gemeinden haben eine höhere EKP.

Die Clusterung nach dem steuerbaren Einkommen pro Kopf misst die relativen finanziellen Ressourcen. Über beide Abbildungen ist lediglich eine leichte absteigende Tendenz erkennbar. Dies bedeutet, dass der Schluss «Gemeinden mit einem tiefen steuerbaren Einkommen pro Kopf haben eine höhere EKP» nur bedingt zulässig ist (vgl. Anhang E: Abbildung E3 und Abbildung E4). Denn der Zusammenhang ist nicht deutlich und von Unsicherheiten geprägt.

Schliesslich ist bei einer Clusterung der Gemeinden nach ihrer Kantonszugehörigkeit überhaupt kein Muster erkennbar (vgl. Anhang E: Abbildung E5), was aber nicht bedeutet, dass der Kanton die Gemeinden nicht massgeblich beeinflusst. Darüber hinaus ergab eine Clusterung der Gemeinden nach ihrer Grossregion auch kein deutlicheres Bild (vgl. Anhang E: Abbildung E6).

6. Qualitative Resultate

Die Interviews zeichnen ein ähnliches Bild. Alle drei Interviewees stimmen nur bedingt mit der Nachahmungshypothese überein, dass sich kleine Gemeinden bei der Entwicklung ihrer Energie- und Klimastrategie an grossen Gemeinden orientieren. Dies bedeutet aber nicht, dass Nachahmungseffekte keine Rolle spielen. Alle drei Interviewees halten fest, dass Nachahmungseffekte insbesondere bei Peer-Gemeinden stattfinden, was sich wiederum mit der Literatur deckt (Abel 2021; An et al. 2023; Kern et al. 2023; Lindvall 2023; Zeemering 2012). Ein Interviewee fasst dies wie folgt zusammen:

Nachahmungseffekte anhand der Grösse sehe ich nur bedingt. In den meisten Fällen ist das wohl nicht der Fall […]. Ich sehe eher, dass sich Gleiches mit Gleichem vergleicht. Eine kleine Gemeinde orientiert sich nicht an der Stadt Bern, da sie komplett andere Voraussetzungen hat, sondern an Gemeinden mit ähnlichen Voraussetzungen.

Dabei wäre es zu kurz gegriffen, Peer-Gemeinden nur durch die Einwohner:innenzahl zu definieren. Neben der Einwohner:innenzahl spielt eine Vielzahl an Faktoren wie Region, Sprache oder Gemeindetyp (Kern- vs. Gürtel- vs. Peripheriegemeinde) eine Rolle:

Die beiden Städte Rapperswil und Chur sind zwar gleich gross, nehmen aber unterschiedliche Funktionen [Gemeindetypen] ein. Chur hat eine Zentrumsfunktion und Rapperswil liegt im Sog von der Stadt Zürich.

Ein Interviewee stellt zudem das eigentliche Ziel des Nachahmens infrage und argumentiert, dass Gemeinden nicht zwingend ihre Peer-Gemeinde mit der ambitioniertesten Energie- oder Klimastrategie nachahmen, sondern die First-Mover resp. die Gemeinden, die zuerst eine Energie- oder Klimastrategie entwickelt haben. Diese Überlegungen gehen auch mit jenen von Abel (2021) einher, der die einflussreiche Rolle von Klimapionieren auf Nachzügler hervorhebt:

Es kommt nicht darauf an, wie ambitioniert eine Gemeinde ist, sondern wer schon eine Strategie hat, und diese wird dann kopiert.

Abgesehen von Nachahmungseffekten sehen zwei Interviewees trotzdem einen Zusammenhang zwischen EKP und Einwohner:innenzahl. Sie begründen ihn nach den Überlegungen von Barney (1991) und aus einer ressourcenbasierten Perspektive. Dies geht mit den Beobachtungen von Otto et al. (2021) einher, die zum Schluss kommen, dass finanzielle Unterstützung in deutschen Städten von entscheidender Bedeutung ist, um ambitionierte Strategien umzusetzen:

[Der Zusammenhang zwischen der Grösse einer Gemeinde und der EKP] macht für mich Sinn. Aber mehr aus dem Grund, weil grössere Gemeinden mehr [absolute finanzielle] Ressourcen und Personal haben und seitens der Bevölkerung eher einen Druck spüren, um eine Vorreiterrolle zu übernehmen […]. Kleine Gemeinden warten eher ab.

Ein Interviewee entwickelt diesen Gedanken weiter und merkt an, dass es sich vermutlich nicht um einen linearen Zusammenhang, sondern eine Sprungfunktion handelt. Das heisst, der Zusammenhang – je mehr Einwohner:innen, desto mehr Steuersubstrat und desto mehr absolute finanzielle Ressourcen – stimmt erst ab einem bestimmten Schwellenwert, den es zu überwinden gilt:

Ich sehe eine Mindestkapazität [an finanziellen Ressourcen], die eine Gemeinde haben muss, um ein [energie- und klimarelevantes] Vorhaben zu stemmen.

Diese Schwellenwerthypothese würde auch erklären, warum niemand überrascht war, dass es nicht auf das steuerbare Einkommen pro Kopf einer Gemeinde ankommt, ob sie ambitionierte Energie- und Klimaziele verfolgt oder nicht.

In Bezug auf die politische Orientierung waren sich alle drei Interviewees einig, dass sie eine entscheidende Erklärungsvariable ist. Jedoch gingen die Meinungen auseinander bei der Frage, ob der «SVP-Wähleranteil an den Nationalratswahlen 2015» die richtige Messgrösse dafür ist:

Meiner Meinung nach gibt es den Zusammenhang mit der politischen Ausrichtung. Er ist aber viel komplexer als nur der SVP-Wähleranteil. Es gibt auch FDP-Nationalräte, die sehr umtriebig in Umweltthemen sind. Es gibt aber auch Mitte-Politiker:innen, die im Klimaschutz der SVP nahestehen.

Demgegenüber vertrat ein Interviewee den Standpunkt, dass der SVP-Wähleranteil ein valider Indikator ist:

Den SVP-Wähleranteil finde ich nicht schlecht. Sie sind am kritischsten […] und sie positionieren sich klar gegen Energie- und Klimastrategien. Darum finde ich es einen guten Indikator.

Der dritte Interviewee positioniert sich dazwischen. Er spricht sich für den Indikator aus, relativiert aber seine Bedeutung:

[Die Links-Rechts-Klassifizierung] deckt sich mit meinen Erfahrungen: Rechte Gemeinden haben es schwieriger, ein langfristiges Commitment zu energiepolitischen Themen abzugeben. Sie sind eher interessiert, konkrete Massnahmen umzusetzen. Man darf aufgrund dieser Grafik aber nicht den Fehler machen und sagen, rechte Gemeinden machen in der Energiepolitik weniger [vorwärts]. Ich mache oft die Erfahrung, dass rechte Gemeinden nicht in Strategien investieren möchten – das ist für sie «verlorenes Geld» –, sondern konkrete Projekte umsetzen möchten.

Beim Beratungsunternehmen als Erklärungsvariable gingen die Meinungen ebenfalls auseinander. Ein Interviewee schätzte ihren Einfluss hoch ein, da zwischen Berater:in und Gemeinden eine Informationsasymmetrie besteht. Ein:e Gemeindeverter:in kann in kleinen Gemeinden für mehrere Dossiers zuständig sein und ist deshalb nicht in der Lage, sich ähnlich zu spezialisieren wie ein:e Berater:in. Daher ist sein:ihr Einfluss vergleichsweise hoch. Ein anderer Interviewee hält dem entgegen und argumentiert, dass ein:e Berater:in eine Energie- und Klimastrategie inspirieren kann, aber jede Gemeinde anders ist und jede Energie- und Klimastrategie auf die lokalen Bedingungen angepasst werden muss. Der dritte Interviewee positioniert sich wieder dazwischen:

Die Berater haben bestimmt einen gewissen Einfluss und es stimmt sicher, dass sie ihre Erfahrungen von einer Gemeinde auf die andere übertragen. Von einem Erfahrungstransfer profitieren schliesslich alle. Aber jeder Berater ist auf einen starken Sparringpartner [seitens der Gemeinde] angewiesen, die hinter dem Dossier steht und es auch intern verteidigt und vorantreibt – ohne diesen Sparringpartner geht ansonsten nichts.

Abschliessend bewerten alle drei Interviewees den:die Sparringpartner:in als zentrale Erklärungsvariable für eine ambitionierte Energie- oder Klimastrategie. Sie betonen, dass der «politische Wille» neben den «personellen Ressourcen» entscheidend dafür ist, ob eine Energie- oder Klimastrategie ambitioniert ist und ob überhaupt eine entwickelt wird.

7. Zusammenfassung und Diskussion

Bund und Kantone formulieren Netto-Null-Ziele und entwickeln Energie- und Klimastrategien, um die Klimabelastung der Schweiz zu minimieren. Städte und Gemeinden ziehen mit und erarbeiten ihre eigenen Energie- und Klimastrategien, die aber unterschiedlich ambitioniert ausfallen.

Diese Forschungsarbeit stellt die Forschungsfrage, wie ambitionierte Energie- und Klima-strategien über die Zeit entstehen und ob kleine Gemeinden grosse Gemeinden nachahmen. Aus einer neo-institutionalistischen Perspektive lässt sich argumentieren, dass Nachahmungseffekte in der Entstehung von Energie- und Klimastrategien eine entscheidende Rolle spielen.

In der recherchierten Forschungsliteratur ist Konsens, dass Nachahmungsprozesse in der Energie- und Klimapolitik auf geografische und ideologische Peer-Gemeinden (Abel 2021; An et al. 2023; Kern et al. 2023; Lindvall 2023; Zeemering 2012) sowie auf die Rolle von Netzwerkakteuren (z.B. Trägerverein Energiestadt) zurückzuführen sind (Abel 2021; Buzási et al. 2024; Corcaci und Kemmerzell 2023; Hakelberg 2014; Kern und Bulkeley 2009; Lindvall 2023; Schmidt und Wagner 2023; Schoenefeld et al. 2022). Bis zu der vorliegenden Arbeit beschäftigte sich noch kein Forschungsbeitrag mit Nachahmungseffekten auf kommunaler Ebene in der Schweizer Energie- und Klimapolitik.

Mit einem sequentiellen Forschungsdesign aus den Mixed Methods wurde versucht, die Forschungsfrage zu beantworten. Zunächst erfolgte eine quantitative Analyse von 472 Energiestadt-Gemeinden, die danach den Expert:innen während der Interviews vorgelegt wurde. Die Expert:innen gaben daraufhin ihre Einschätzung zur quantitative Analyse ab.

Die quantitativen und qualitativen Resultate unterstützen die Nachahmungshypothese nicht. Dies heisst jedoch nicht aus, dass keine Nachahmungseffekte existieren. Aus den drei Interviews ging einheitlich hervor, dass Peer-Gemeinden, Gemeinden in geografischer Nähe und solche mit ähnlichen strukturellen Voraussetzungen sich gegenseitig nachahmen, was mit der Literaturrecherche kongruiert (Abel 2021; An et al. 2023; Kern et al. 2023; Lindvall 2023; Zeemering 2012). Anstatt einer deskriptiven Analyse könnte sich für zukünftige Forschungen eine Panel-Regression anbieten, um mögliche Nachahmungseffekte nachzuweisen. In diesem Fall müsste aber mitbedacht werden, dass Daten nur in Vier-Jahres-Abständen pro Gemeinde vorliegen und dadurch zwangsläufig Datenlücken entstehen, was eine Analyse erschwert.

Ebenso zeigen die quantitativen und qualitativen Resultate, dass die Einwohner:innenzahl und politische Orientierung plausible Erklärungsvariablen für ambitionierte Energie- und Klimastrategien sind. Die Einwohner:innenzahl als Variable begründen die Expert:innen aus einer ressourcenbasierten Perspektive und argumentieren, dass die Umsetzung von Energie- und Klimamassnahmen an die finanziellen Ressourcen gebunden sind und grosse Gemeinden daher eher in der Lage sind, solche Massnahmen umzusetzen. Dies erklärt auch den Unterschied zwischen kleinen und grossen Gemeinden in der EKP (vgl. Abbildung 4 und Abbildung 5). Die politische Orientierung entscheidet womöglich darüber, welchen Stellenwert Energie- und Klimastrategien haben: Links-orientierte Gemeinden arbeiten eher Energie- und Klimastrategien aus als rechts-orientierte Gemeinden.

Energie- und Klimastrategien sind aber nicht mit energie- und klimapolitischen Massnahmen gleichzusetzen. Diese Forschungsarbeit bewertet Energie- und Klimastrategien, nicht aber ihre Umsetzung. Eine zukünftige Forschungsarbeit könnte hier ansetzen und Einflussfaktoren auf die Umsetzung von konkreten energie- und klimapolitischen Projekten untersuchen. Eine Tatsache ist aber auch, dass Energie- und Klimastrategien in einer immer komplexeren Welt eine wichtige Rolle einnehmen, um zu navigieren– auch für Gemeinden. Ein Interviewee fasst dies wie folgt zusammen:

Aufgrund der zunehmenden Komplexität in unserer Welt braucht es Strategien. Wir sind nicht mehr in einem Zeitalter, in dem wir hier und dort ein «Projektli» machen können. Es braucht eine Gesamtstrategie, um die Ressourcen auch effektiv einsetzen zu können.

Ein weiterer Anknüpfungspunkt wäre, die politische Orientierung mit einem anderen Indikator zu messen. Ein Experte brachte den Einwand, dass eine Links-Rechts-Klassifizierung anhand der SVP-Wähleranteile an den Nationalratswahlen 2015 zu kurz gegriffen sei. Eine Alternative wäre, die politische Orientierung mit dem Abstimmungsverhalten zu energie- und klimapolitischen Sachabstimmungen zu messen.

Sowohl beim steuerbaren Einkommen pro Kopf (relative finanzielle Ressourcen) als auch bei der Kantonszugehörigkeit konnte weder quantitativ noch qualitativ ein Zusammenhang nachgewiesen werden. Der Einfluss der Berater:innen konnte quantitativ nicht erhoben werden, da keine geeigneten Daten zur Verfügung standen. Dennoch wäre eine solche Betrachtung für zukünftige Forschungsarbeiten interessant, insbesondere weil die Analyse der Expert:inneninterviews nahelegt, dass Berater:innen die Ambition der Energie- und Klimastrategie einer Gemeinde beeinflussen, sofern ein:e Sparringpartner:in innerhalb der Gemeinde existiert, der:die das Vorhaben intern vorantreibt. Demnach müssten solche Sparringpartner:innen systematisch aufgebaut und unterstützt werden. Es wäre an dieser Stelle erstens interessant herauszufinden, was ihnen fehlt, um weiterhin erfolgreich zu sein bzw. noch effektiver im operativen Alltag zu werden. Zweitens wäre es spannend, Bedürfnisse und Hindernisse von Sparringpartner:innen zu identifizieren und ein Angebot zu schaffen, das es ihnen ermöglicht, intern energie- und klimapolitische Dossiers voranzutreiben.

Abschliessend kann festgehalten werden, dass diese Forschungsarbeit zu einem besseren Verständnis der Entstehung von kommunalen Energie- und Klimastrategien beiträgt. Dieses bessere Verständnis kann für Bund und Kantone für die Justierung bestehender Unterstützungsprozesse nützlich sein.

Zusätzliche Dateien

The additional file for this article can be found as follows:

Anhang A

«Übersicht identifizierter Forschungsbeiträge». DOI: https://doi.org/10.5334/ssas.201.s1

Anhang B

«Clusterung nach technischen Grenzen». DOI: https://doi.org/10.5334/ssas.201.s2

Anhang C

«Clusterung nach inhaltlichen Grenzen». DOI: https://doi.org/10.5334/ssas.201.s3

Anhang D

«Interviewleitfaden». DOI: https://doi.org/10.5334/ssas.201.s4

Anhang E

«Quantitative Resultate». DOI: https://doi.org/10.5334/ssas.201.s5

Notes

[1] Eine Energie- und Klimastrategie ist umfassend, wenn sie Ziele und Massnahmen in energie- und klimarelevanten Bereichen wie kommunaler Entwicklungsplanung und Raumordnung, Gebäude und Anlagen, Ver- und Entsorgung, Mobilität, interner Organisation sowie Kooperation und Kommunikation beinhaltet. Diese Bereiche orientieren sich am Massnahmenkatalog des Trägervereins Energiestadt (2020).

[2] Da es sich um einen schweizweiten und keinen internationalen Vergleich handelt, ist der Einfluss des Bundes ausgeklammert.

[3] Unter ‘States’ werden hier der Einfachheit halber Kantone verstanden.

[4] Nakazawa et al. (2023) sprechen von Präfekturen, was im Schweizer Kontext mit Kantonen vergleichbar ist.

[5] Verbund aus mindestens zwei Gemeinden. Bsp: Agglomeration de Delémont oder Region Appenzellerland über dem Bodensee.

[6] Die Gemeinden des Energiestadt-Sample kommen auf eine kumulierte ständige Wohnbevölkerung 2022 von 5’382’707 Einwohner:innen. Schweiz per 31.12.2022: 8’815’385 EW (BFS 2023a).

Dankaussage

Ich danke erstens den beiden anonymen Reviewer für ihre wertvollen Kommentare und Vorschläge, welche den Artikel deutlich aufgewertet haben. Zweitens geht mein Dank an Dr. Yann Blumer (ZHAW) für seine Unterstützung während des Reviewprozesses und an Prof. Dr. Patrik Aspers (HSG) für sein Engagement während der Entstehung dieses Forschungsbeitrags im Rahmen des Seminars «Gesellschaft/Society: Werkstatt/Workshop» der Universität St. Gallen. Schliesslich möchte ich mich noch beim Trägerverein Energiestadt bedanken, der mir die Daten für die quantitative Auswertung zur Verfügung gestellt hat.

Informationen über die Finanzierung

Diese Forschungsarbeit wurde mit Unterstützung wurden mit Unterstützung des Bundesamtes für Energie BFE im Rahmen des SWEET-Projekts CoSi durchgeführt. Der Autor trägt die alleinige Verantwortung für die Schlussfolgerungen und Ergebnisse.

Interessenskonflikte

Der Autor hat keine Interessenkonflikte offenzulegen.

DOI: https://doi.org/10.5334/ssas.201 | Journal eISSN: 2632-9255
Language: German
Submitted on: Jan 25, 2024
Accepted on: Sep 25, 2024
Published on: Oct 17, 2024
Published by: Ubiquity Press
In partnership with: Paradigm Publishing Services
Publication frequency: 1 issue per year

© 2024 Kim Whett, published by Ubiquity Press
This work is licensed under the Creative Commons Attribution 4.0 License.