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The role of theories and models in implementation science: An example of application in neurorehabilitation / Die Rolle von Theorien und Modellen in der Implementierungsforschung: ein Anwendungsbeispiel aus der Neurorehabilitation Cover

The role of theories and models in implementation science: An example of application in neurorehabilitation / Die Rolle von Theorien und Modellen in der Implementierungsforschung: ein Anwendungsbeispiel aus der Neurorehabilitation

By: Maria Stadel and  Gudrun Diermayr  
Open Access
|Aug 2025

Full Article

INTRODUCTION

Trotz der zahlreichen Vorteile einer evidenzbasierten Praxis (u. a. Pogrebnoy & Dennett, 2020; Souza Possa et al., 2014) zeigt sich, dass die Integration neuer Forschungserkenntnisse und Innovationen in die Gesundheitsversorgung eine komplexe Herausforderung darstellt (u.a. Baatiema et al., 2017; Diermayr et al., 2015). Insbesondere erweist sich die nachhaltige Verankerung dieser Innovationen in der Praxis als äußerst schwierig (Peschke, 2019; Ploeg et al., 2014). Dies kann zu Lücken zwischen der Gesundheitsversorgung von Patient*innen einerseits und den wissensbasierten Empfehlungen andererseits führen (Dilling et al., 2013; Ploeg et al., 2014). Folge können Unter-, Über- oder Fehlversorgung sein (Lynch et al., 2018; Peschke, 2019; Zein & Saal, 2017).

Um diese Lücke zu schließen, ist die Implementierungswissenschaft von besonderer Bedeutung. Diese wird definiert als die wissenschaftliche Untersuchung von Prozessen und Strategien zur systematischen Integration von Forschungsergebnissen und Innovationen in die Routineversorgung und somit zur Verbesserung der Effektivität und Qualität von Gesundheitsdienstleistungen (Eccles & Mittman, 2006). In die Implementierungswissenschaft fließen Ansätze unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen ein (z.B. der Soziologie, der Psychologie, der Organisationsund der Managementforschung). Kennzeichnend ist eine Methodenpluralität, eine enge Kooperation zwischen Forschenden und allen am Projekt beteiligten Interessensgruppen sowie das Betrachten und Miteinbeziehen unterschiedlicher Ebenen in den Forschungsprozess (z.B. die Ebene des Individuums, des Teams, des Systems etc.) (u.a. Greenhalgh, 2018).

Während eine Pionierin der Implementierungswissenschaft, Trisha Greenhalgh, schreibt „implementation science is not an exact science“ (Greenhalgh, 2018, S.1), bieten zahlreiche Modelle und Theorien (u.a. Theorien zur Verhaltensänderung) einen strukturgebenden und theoretischen Rahmen für die Konzeption, Durchführung und Evaluation von Implementierungsprojekten an (Greenhalgh, 2018; Moullin et al., 2020; Nilsen, 2015; Straus et al., 2013). Fundierte theoretische Grundlagen ermöglichen es auch zu verstehen und zu erklären, wie und warum Implementierungsstrategien gelingen oder scheitern (Nilsen, 2015). Außerdem können Modelle und Theorien für alle am Implementierungsprojekt Beteiligten – u.a. Wissenschaftler*innen, Praktiker*innen und Führungskräfte – eine Grundlage für eine gemeinsame Sprache darstellen (Moullin et al., 2020).

Konkret werden Theorien, Modelle und Rahmenwerke (engl. „Frameworks“) (TMFs) unterschieden (Nilsen, 2015). TMFs werden wiederum in Prozessmodelle („process models“), Klassische Theorien („classic theories“), Implementierungstheorien, Rahmenwerke zu Einflussfaktoren („determinant frameworks“) und Rahmenwerke zur Evaluation differenziert (Nilsen, 2015). Prozessmodelle definieren und steuern Schritte, die für die Umsetzung von neuem Wissen in die Praxis notwendig sind (z.B. Knowledge-to-Action (KTA)-Zyklus (Graham et al., 2006)). Klassische Theorien aus Disziplinen außerhalb der Implementierungswissenschaften, wie z.B. Psychologie, Soziologie und Organisations-/Managementtheorie, bieten Erklärungsansätze für verschiedene Aspekte der Implementierung (z.B. Transtheoretisches Modell (Prochaska & DiClemente, 1982)). Implementierungstheorien hingegen wurden von Wissenschaftler*innen innerhalb der Implementierungsforschung entwickelt, um spezifische Aspekte der Implementierung zu verstehen und/oder zu erklären (z.B. das „COM-B Model“ (Michie et al., 2011)). Rahmenwerke zu Einflussfaktoren definieren die Faktoren, die den Implementierungserfolg als Barrieren und Förderfaktoren beeinflussen können (z.B. das „Theoretical Domains Framework“ (Atkins et al., 2017)), wohingegen Rahmenwerke zur Evaluation eine inhaltliche Struktur zur Bewertung von Implementierungsmaßnahmen bieten (z.B. „RE-AIM framework“ (Glasgow et al., 1999)). Einen umfassenden Überblick zu TMFs bzw. deren Einsatz in der Implementierungswissenschaft bieten u.a. zwei Scoping Reviews (Romney et al. 2022; Esmail et al. 2020); vor allem in der Studie von Esmail und Co-Autor*innen (2020) werden die TMFs im Vergleich zu unserer beispielhaften Darstellung systematisch aufgelistet und verglichen.

In der Auswahl von TMFs für ein Implementierungsprojekt sollen unterschiedliche Aspekte berücksichtigt werden: u.a. der Zweck, der durch den Einsatz von TMFs im Rahmen einer Implementierung verfolgt wird (z.B. Strukturierung des gesamten Implementierungsprozesses; Evaluation einer Implementierungsintervention); die verschiedenen Ebenen, die im Modell/der Theorie/dem Rahmenwerk abgedeckt werden sollen (z.B. spätere Nutzer*innen, Organisation, System); oder die Übereinstimmung der TMFs mit dem jeweiligen Setting, Kontext und den praktischen Herausforderungen des Projekts (Birken et al., 2018; Lynch et al. 2018; Moullin et al., 2015). Es wird empfohlen, verschiedene TMFs zu kombinieren, um alle relevanten Aspekte zu berücksichtigen (Moullin et al., 2020; Nilsen, 2015). Eine Hilfestellung zur Auswahl von geeigneten TMFs bietet das „Theory Comparison and Selection Tool (T-CaST)“ (Birken et al., 2018) oder das Online-Support Tool „Find TMF” (Strifler et al., 2024).

Internationale Implementierungsprojekte in den Gesundheitsberufen zeigen, dass wissenschaftliche Innovationen vor allem dann effektiv in die Praxis transferiert werden können (Abraham et al., 2019; McCluskey et al., 2020; Moore et al., 2018; Romney et al., 2019; Salbach et al., 2021; Shrubsole et al., 2018), wenn Implementierungsmaßnahmen sorgfältig in Anlehnung an TMFs geplant und durchgeführt werden (Atkins et al., 2017; Graham et al., 2006; Michie et al., 2005). Der Bedarf an einer theoriegeleiteten Implementierungsforschung zeigt sich auch in den Gesundheitsberufen im deutschsprachigen Raum (u.a. Bahns & Kopkow, 2023; Braun et al., 2022; Greisberger et al., 2022; Ritschl et al., 2015; Schindel et al., 2022). In der Physiotherapie in Deutschland werden zum Beispiel Leitlinienempfehlungen in Bezug auf die Verbesserung der Mobilität sowohl in der stationären als auch in der ambulanten Physiotherapie nach Schlaganfall unzureichend umgesetzt (Diermayr et al., 2023; Diermayr et al., 2021; Scheffler et al., 2022b). Theorie-Praxis-Lücken wurden hier auch in der Anwendung standardisierter Assessments zur Evaluation von Balance und Mobilität identifiziert (Diermayr et al., 2021). Erste Implementierungsprojekte in der Physiotherapie in Deutschland planen, die Leitliniennutzung in der stationären Schlaganfallrehabilitation (Scheffler et al., 2022a) bzw. in der Physiotherapie bei Knie- und Hüftarthrose (Bahns et al., 2023) zu fördern. Außerdem zeigt ein Projekt zur Implementierung von Assessments in der physiotherapeutischen Versorgung einer Stroke-Unit, wie die Nutzung von Assessments bei Patient*innen mit Schlaganfall gesteigert werden kann (Paus et al., 2022). Der vorliegende Artikel adressiert die Theorie-Praxis-Lücke in der Anwendung standardisierter Assessments zur Evaluation von Balance und Mobilität in der Physiotherapie. Konkret wird die Konzeption des Implementierungsprojekts AssessMobility unter Nutzung ausgewählter TMFs dargestellt. Unser Vorgehen bei der Auswahl geeigneter TMFs folgt einem pragmatischen Ansatz, der sich an bestehenden Auswahlempfehlungen (u.a. Lynch et al. 2018; Moullin et al. 2020) sowie an konkreten Anwendungsbeispielen aus der aktuellen Literatur (z.B. Salbach et al. 2022; Romney et al. 2019) orientiert. Ziel des Projekts AssessMobility ist es, die Effekte einer Wissens-Transfer-Intervention zur Implementierung von Assessments für Balance und Mobilität bei Personen mit neurologischen Erkrankungen in einer Klinikgruppe mit elf Einrichtungen zu untersuchen. Die Intervention wird partizipativ entwickelt und im Rahmen einer multizentrischen Studie evaluiert. Während das Implementierungsprojekt eine Verhaltensänderung von Physiotherapeut*innen anstrebt, sind die methodischen Überlegungen zum Vorgehen professions-unabhängig bzw. auf andere Gesundheitsberufe übertragbar.

ANWENDUNGSBEISPIEL – PROJEKT ASSESSMOBILITY

AssessMobility ist als praxisorientiertes Implementierungsprojekt mit einer Laufzeit von drei Jahren angelegt und wird in enger Kooperation zwischen einer Hochschule und elf (neurologischen) Einrichtungen einer Klinikgruppe (Akuthäuser, Rehabilitationskliniken und ambulante Einrichtungen) durchgeführt. Die Hochschule sowie die klinischen Einrichtungen sind Teil der SRH Holding, eines Konzerns für Bildung und Gesundheit. Vor Projektstart wurde die Kontaktaufnahme zu Therapieleitungen und leitenden Ärzt*innen der beteiligten Einrichtungen auf- bzw. ausgebaut. Als strukturgebender Rahmen für die Kontaktaufnahme konnte das 2019 an der Hochschule gegründete SRH Therapie-Netzwerk genutzt werden (https://www.srh.de/de/gesundheit/srh-therapienetzwerk/). Dieses Netzwerk umfasst alle Therapeut*innen des Konzerns, unter anderem Therapeut*innen aus dem hochschulischen Bereich und der Gesundheitseinrichtungen, und bietet Kommunikationsmöglichkeiten, die eine einrichtungsübergreifende Zusammenarbeit der Therapeut*innen erleichtern. Das Projekt wurde von der Hochschule und dem SRH Therapie-Netzwerk initiiert. Die Vorgehensweise innerhalb des Projekts ist inspiriert durch die Idee des integrativen Wissens-Transfers (iKT) (Jull et al., 2017) und den sog. Co-Creation Ansatz (Pérez Jolles et al., 2022). Der iKT-Ansatz bezieht sich auf einen kollaborativen Prozess, bei dem Forschende mit Wissensnutzer*innen als gleichberechtigte Partner*innen zusammenarbeiten, um Wissen zu erzeugen, zu verbreiten und in die Praxis umzusetzen (Jull et al., 2017). Die Wissensnutzer*innen (z.B. Gesundheitsdienstleister, politische Entscheidungsträger*innen oder Patient*innen) wirken etwa an der Formulierung der Forschungsfragen, der Datensammlung und -analyse und der Interpretation der Ergebnisse mit. Im Projekt AssessMobility wird eine Therapeutin aus einer der beteiligten Einrichtungen über die gesamte Laufzeit, im Sinne von iKT, Mitglied des Projektteams sein und die Entwicklung der Methoden, Datenanalyse, Interpretation und Dissemination unterstützen. In Anlehnung an den Co-Creation-Ansatz (Pérez Jolles et al., 2022) wurde mit den Therapieleitungen der beteiligten Einrichtungen vereinbart, dass in allen Projektphasen eng mit den in der Versorgung tätigen Therapeut*innen zusammengearbeitet wird. Jede teilnehmende Einrichtung entsendet einen/e Vertreter*in, um das physiotherapeutische Team im Projekt zu vertreten. Diese Vertreter*innen nehmen über die gesamte Projektdauer mehrere Rollen ein. Sie beteiligen sich sowohl als „Wissensnutzer*innen“ („knowledge users“ = Personen, die das durch Forschung gewonnene Wissen nutzen können) als auch aktiv als Implementierungspartner*innen (z.B. bei Entscheidungsfindungen, als Vermittler*in zwischen Projektteam und Therapeut*innen vor Ort, als Expert*in aus der Praxis) und Praxisberater*innen („practice facilitator“ (Cranley et al., 2017)) an der Implementierungsintervention.

Eine solch partizipative Herangehensweise stärkt nicht nur die Akzeptanz und nachhaltige Nutzung der Forschungsergebnisse, sondern fördert auch das Vertrauen der Wissensnutzer*innen und deren Zugehörigkeitsgefühl im Rahmen des Implementierungsprozesses (Pérez Jolles et al., 2022).

Als übergeordnetes Prozessmodell für das Forschungsprojekt wird der KTA-Zyklus von Graham und Kolleg*innen (Graham et al., 2006), ein in der Implementierungswissenschaft häufig genutztes Prozessmodell (Moore et al., 2022; Salbach et al., 2022), gewählt.

Der „Knowledge-to-Action“-Zyklus

Der KTA-Zyklus bietet einen konzeptionellen und strukturgebenden Rahmen für den gesamten Prozess von Implementierungsinitiativen. Wie in Abbildung 1 gezeigt, inkludiert dieser Zyklus die für die Erstellung sogenannter Wissens-Werkzeuge (z.B. Leitlinien) erforderlichen Aktivitäten („Wissensgenerierung“) sowie die Aktivitäten und Schritte für den eigentlichen Implementierungsprozess („Aktionszyklus“).

Abbildung 1:

KTA-Zyklus von Graham et al. (2006; Straus et al., 2013) frei übertragen ins Deutsche (mit Genehmigung zur Übersetzung)

Der Trichter der Wissensgenerierung steht im Zentrum des KTA-Zyklus und besteht aus drei Phasen: die Wissensermittlung („Primärforschung“), die Wissenssynthese („Sekundärforschung“) und die Erstellung von sogenannten Produkten/Werkzeugen zur Anwendung von Wissen (Graham et al., 2006; Straus et al., 2013). Dabei wird das Wissen durch Filterung und Synthese innerhalb der drei Phasen so aufbereitet, dass es für die Nutzer*innen, z.B. im Rahmen von Leitlinienempfehlungen, potenziell besser anwendbar wird (Straus et al., 2013).

Der Aktionszyklus besteht insgesamt aus sieben Phasen, deren Umsetzung nacheinander oder auch gleichzeitig erfolgen kann (Straus et al., 2013). Die einzelnen Teile basieren auf Theorien des geplanten Handelns (z.B. „Theory of Planned Behavior“ (Ajzen, 1985)), die sich darauf fokussieren, gezielte Veränderung in Gesundheitssystemen und -gruppen zu gestalten (Graham et al., 2006; Straus et al., 2013). In der ersten Phase wird ein spezifisches Problem identifiziert und detailliert dargestellt sowie der damit verbundene Wissensbedarf bestimmt. Anschließend soll das ausgewählte Wissen (z.B. Leitlinienempfehlungen) an den lokalen Kontext angepasst werden. In der dritten Phase werden potenzielle Barrieren und förderliche Faktoren für die Wissensnutzung ermittelt. Im nächsten Schritt werden Strategien zur Wissensumsetzung, wie z.B. Schulungs-Workshops, entwickelt und implementiert. In der fünften und sechsten Phase erfolgen zum einen die Kontrolle der Wissensnutzung und zum anderen eine Evaluation der Ergebnisse, um den Effekt der Strategien zur Wissensumsetzung zu überprüfen. Abschließend sollen Maßnahmen zur Sicherstellung der Nachhaltigkeit in der Praxis ergriffen werden (Graham et al., 2006; Straus et al., 2013).

Für die Konzeption des Projektes AssessMobility wurde der KTA-Zyklus als übergeordnetes Prozessmodell gewählt, da die strukturierte Vorgehensweise mit klar definierten Phasen einen systematischen Ansatz ermöglicht, der von der Identifizierung relevanter Evidenz bis zur Integration dieser Evidenz in die Praxis reicht. Der KTA-Zyklus berücksichtigt sowohl explizites Wissen (wissenschaftliche Erkenntnisse) als auch implizites Wissen (Erfahrungen und Meinungen von Praktiker*innen), wodurch die Implementierungsstrategien praxisnah und realistisch gestaltet werden können (Straus et al., 2013). Ein weiterer Vorteil ist die Anpassungsfähigkeit des Zyklus an verschiedene Kontexte und Bedürfnisse, was seine Anwendbarkeit auf unterschiedliche Settings im Gesundheitswesen erhöht. Zudem zielt der KTA-Zyklus darauf ab, Evidenz dauerhaft und langfristig in der Versorgung zu verankern.

Die einzelnen Phasen des KTA-Zyklus werden im Projekt AssessMobility durch die Anwendung weiterer spezifischer TMFs unterstützt, die im Folgenden näher beschrieben werden.

Problem identifizieren

Eine interne Umfrage des SRH Therapie-Netzwerks sowie orientierende Gruppendiskussionen in ausgewählten konzern-internen Einrichtungen zeigten, dass Physiotherapeut*innen Assessments nicht regelmäßig anwenden, obwohl dies in Leitlinien empfohlen wird (u.a. Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin [DEGAM], 2020). Außerdem kommen in den verschiedenen Einrichtungen viele unterschiedliche Assessments zum Einsatz. Dies erschwert eine phasenübergreifende Rehabilitation und Kommunikation bzw. eine phasenübergreifende Darstellung von Behandlungsergebnissen. Diese informellen Vorarbeiten bestätigten die in der Literatur beschriebene Theorie-Praxis-Lücke in Bezug auf die Anwendung standardisierter Untersuchungen in den neurologischen Abteilungen des Konzerns.

Die Ergebnisse dieser Vorarbeiten wurden in verschiedenen Formaten (online oder in Präsenztreffen für Therapeut*innen, organisiert durch das SRH Therapie-Netzwerk) präsentiert und diskutiert. Dabei äußerten die Therapeut*innen Interesse an einem gemeinschaftlichen Projekt über alle Einrichtungen hinweg, um diese Lücke zu adressieren.

Aus Sicht der Praktiker*innen und Therapieleitungen ergibt sich daher für das Projekt folgendes Ziel: die Implementierung eines oder mehrerer Assessments, die in allen beteiligten Einrichtungen zur Evaluation von Balance und Mobilität bei Personen mit neurologischen Erkrankungen genutzt werden können. Für die Projektgruppe von AssessMobility ergeben sich daraus wiederum drei Teilziele, die innerhalb der Phasen des KTA-Zyklus gemeinsam mit praktisch tätigen Physiotherapeut*innen erreicht werden sollen:

  • 1)

    Identifikation und Auswahl von geeigneten Assessments zur Evaluation von Balance und Mobilität

  • 2)

    Entwicklung und Durchführung einer Intervention zur Implementierung der gemeinsam identifizierten Assessments

  • 3)

    Evaluation der multizentrischen Implementierungsintervention

Wissen identifizieren, überprüfen, auswählen und Wissen an lokalen Kontext anpassen

Um eine Sammlung relevanter Assessments für die Auswahl zu erstellen, werden im Rahmen eines Scoping Reviews – erstellt durch zwei Studierende im Rahmen ihrer Bachelor-Arbeit – deutsche Leitlinien im Fachbereich „Neurologie“ und „Geriatrie“ (Wissenswerkzeuge) durchsucht und analysiert, um darin empfohlene Assessments zur Evaluation von Balance und Mobilität zu identifizieren und zu charakterisieren. In einem weiteren Studierendenprojekt wird ein „Environmental Scan“ (Analyse von Umgebungsfaktoren) (Charlton et al., 2021) in allen teilnehmenden Einrichtungen durchgeführt, um Informationen über die aktuelle Routineversorgung in den teilnehmenden neurologischen Abteilungen zu sammeln und die aktuelle Situation in Bezug auf die derzeitige Assessmentanwendung detailliert zu verstehen.

Für die Auswahl von Wissen (Wissen = Assessment) wird ein partizipativer Ansatz gewählt. Jede teilnehmende Einrichtung entsendet einen/e Vertreter*in aus dem neurologischen Physiotherapieteam, welche/r in zwei Gruppendiskussionen gemeinsam mit der Projektgruppe den Auswahlprozess mitgestaltet. In der ersten Gruppendiskussion identifizieren die Vertreter*innen Kriterien, die aus ihrer Sicht für die Auswahl von Assessments bedeutend sind und gewichten diese nach Relevanz. Anschließend erstellt das Projektteam unter Verwendung des „Option Matrix Tools“ (Enz & Thomson, 2013) ein Ranking der im Scoping Review identifizierten Assessments. Hierbei bilden die identifizierten Kriterien zusammen mit den Ergebnissen der „Environmental Scans“ die Grundlage für die Bewertung bzw. die Erstellung des Rankings. In der zweiten Gruppendiskussion wird das Ranking präsentiert, und die Vertreter*innen entscheiden unter Verwendung des soziokratischen Ansatzes (Rüther, 2010), welches Assessment bzw. welche Assessments in allen Einrichtungen eingeführt werden soll(en).

Barrieren und Förderfaktoren für die Nutzung des neuen Wissens erheben

Barrieren und Förderfaktoren hinsichtlich der Nutzung von Assessments allgemein und der in der vorangegangenen Phase identifizierten Assessments werden in den beteiligten Einrichtungen durch eine Umfrage ermittelt, die unter Verwendung des „Theoretical Domains Framework (TDF)“, einem Rahmenwerk zur Spezifizierung von Einflussfaktoren (Atkins et al., 2017; Michie et al., 2005; Michie et al., 2011), entwickelt wird. Das TDF ist hierfür besonders geeignet, da es mehrere Ebenen von Einflussfaktoren integriert, die für die Implementierung von Innovationen im Gesundheitswesen relevant sind. Es adressiert die individuellen Determinanten des Verhaltens (z.B. Wissen, Fähigkeiten, Optimismus, Verstärkung und Emotionen), soziale und kulturelle Einflüsse (wie z.B. soziale/professionelle Rolle, Teamarbeit und Organisationkultur), sowie Umgebungsfaktoren und Ressourcen (z.B. Verfügbarkeit und Management von (materiellen) Ressourcen) (Atkins et al., 2017).

Zur Teilnahme an der Umfrage werden alle Therapeut*innen („Knowledge-User“) der beteiligten Einrichtungen eingeladen, die Balance und Mobilität bei Personen mit neurologischen Beeinträchtigungen in den teilnehmenden Einrichtungen untersuchen und behandeln. Die Teilnahme an der Umfrage ist digital oder analog über Papierfragebögen möglich.

Die Identifikation förderlicher oder hemmender Verhaltensdeterminanten (z.B. Überzeugung, dass Assessments einen Mehrwert für die interprofessionelle Praxis darstellen; Unsicherheit in der Interpretation von Assessment-Ergebnissen; mangelnde Unterstützung in der Assessmentanwendung durch das Team; Verfügbarkeit von passenden Räumlichkeiten) ermöglicht es im nächsten Schritt, diese Determinanten durch spezifische Implementierungsmaßnahmen zu adressieren.

Interventionen auswählen, anpassen, durchführen

In dieser Phase des KTA-Zyklus wird eine Kombination aus theoriebasiertem und partizipativem Ansatz verwendet (Straus et al., 2013). Theoriebasiert werden geeignete Interventionen zur Verhaltensänderung (also zur Anwendung der ausgewählten Assessments) unter Zuhilfenahme des „Behavior Change Wheel“ (BWC) (Michie et al., 2011) identifiziert. Das BCW ist ein integratives Rahmenwerk, das Theorien zur Verhaltensänderung im Gesundheitsbereich vereint (Michie et al., 2011). Es umfasst neun Interventionsfunktionen, die Verhalten beeinflussen können (z.B. Training, Umstrukturierung von Umgebungsfaktoren), sowie sieben Kategorien strategisch-politischer und managementbezogener Maßnahmen zur Unterstützung der Implementierung dieser Funktionen (Michie et al. 2011). Im Zentrum des BCW steht das „Capability“ (Fähigkeit) – „Opportunity“ (Gelegenheit) – „Motivation“ (Motivation) – „Behavior“ (Verhalten) Modell (COM-B Modell) (Michie et al., 2011). Die drei Komponenten des COM-B-Modells korrespondieren eng mit den Domänen der TDF, woraus sich die Möglichkeit ergibt, die theoretischen Grundlagen des COM-B-Modells und der TDF-Domänen gezielt für praktische Implementierungsstrategien zu nutzen. So können die mittels TDF generierten Umfrageergebnisse aus den elf Gesundheitseinrichtungen mit dem BCW verknüpft werden, um die Implementierungsintervention passgenau für den entsprechenden Kontext auszuwählen und zu entwickeln (Michie et al., 2014). Das BCW wird international zur Entwicklung von Implementierungsinterventionen u.a. auf Patient*innen und Therapeut*innen-Ebene genutzt (z.B. Reid et al., 2022). Auch in der deutschen Physiotherapie ist die Anwendung des BCW geplant (Bahns & Kopkow, 2023; Scheffler et al., 2022a).

Im partizipativen Teil dieser Phase werden die Perspektiven unterschiedlicher Beteiligter, die direkt oder indirekt an der Assessmentnutzung in der Routinepraxis beteiligt sind, in Bezug auf Maßnahmen der angedachten theoriebasierten Implementierungsintervention erfragt. Geplant sind hierfür eine weitere Gruppendiskussion mit den Vertreter*innen und informelle Abstimmungen mit den Therapieleitungen und Ärzt*innen der Einrichtungen. Mögliche Anpassungen der theoretisch hergeleiteten Implementierungsinterventionen durch die Praxis-Perspektive ermöglichen eine passgenaue Ausgestaltung der Interventionen in den elf Einrichtungen (Straus et al., 2013).

Die Durchführung der Implementierungsintervention in den beteiligten Einrichtungen ist über einen Zeitraum von sechs Monaten geplant. In dieser Zeit sollen die Maßnahmen zur Einführung der Assessments durchgeführt werden. Beispiele für mögliche Maßnahmen, die zur Verhaltensänderung genutzt werden („behaviour change techniques“), sind Fertigkeitstraining anhand von Patient*innenbeispielen, Einführung von umweltbezogenen Hinweisreizen zur Erinnerung an die Assessmentnutzung, Bereitstellung von geeigneten Testmaterialien und Informationen zur Auswertung (Michie et al., 2014; Michie et al., 2008).

Nutzung des neuen Wissens kontrollieren und Ergebnisse evaluieren

Die Implementierungsintervention wird durch das Projektteam engmaschig begleitet werden. Dabei ist ein geeignetes „Monitoring“ (Nutzung des neuen Wissens kontrollieren) notwendig, um zu bestimmen, wie und in welchem Umfang sich das neue Wissen in den Zielgruppen verbreitet (Straus et al., 2013). Dazu wird die Methode des „Audit & Feedback“ verwendet (Ivers et al., 2012; Romney et al., 2019). Innerhalb des „Audit und Feedback“, das auch eine Interventionsmaßnahme darstellt, wird die Umsetzung des neuen Wissens über einen bestimmten Zeitraum in unterschiedlicher Form (schriftlich oder mündlich) zusammengefasst und ggf. werden Diskrepanzen zur gewünschten Leistung aufgezeigt (Straus et al., 2013). Das „Audit und Feedback“ wird über Kurzfragebögen zur Assessmentnutzung und/oder durch Überprüfungen der Dokumentation während der Interventionsphase („Audit“) sowie mithilfe von Teamgesprächen („Feedback“) realisiert.

Für die Evaluation von Implementierungsmaßnahmen stehen ebenfalls umfangreiche Modelle wie zum Beispiel das „RE-AIM“ (Glasgow et al., 1999) oder “PRISM” (Feldstein & Glasgow, 2008) zur Verfügung. Aufgrund der suboptimalen Passung dieser Modelle mit den Eigenschaften unseres Projekts werden diese hier allerdings nicht genutzt. Zur Evaluation der Wirksamkeit des Projekts werden das „instrumentelle“ (z.B. Anwendung der Assessments in der klinischen Routine) und das „konzeptionelle Wissen“ (z.B. vorhandenes Wissen und Einstellung zu Assessments) vor Beginn sowie nach Ende der Intervention mittels Chart Audits und Umfragen überprüft (Straus et al., 2013). Als Grundlage zur Überprüfung des konzeptionellen Wissens wird ein weiteres Mal das TDF (Michie et al., 2013) herangezogen.

Abschließend wird die multizentrische Intervention im Rahmen einer „Realist Evaluation“ untersucht. Eine „Realist Evaluation“ ermöglicht es zu verstehen, wie und warum bestimmte Interventionen in verschiedenen Kontexten (in unserem Fall Akuthäuser, Rehabilitationskliniken, ambulante Einrichtungen) wirken oder nicht wirken (Salbach, McDonald et al., 2021). Die Ergebnisse einer solchen Evaluation können wichtige Hinweise für zukünftige Implementierungsmaßnahmen der Physiotherapie und anderer Gesundheitsberufe über das gesamte Versorgungskontinuum geben.

Nutzung des neuen Wissens aufrechterhalten

Eine umfassende und präzise Bearbeitung der vorherigen Phasen zielt auf die nachhaltige Nutzung des Wissens ab, ebenso das Einbeziehen der späteren Nutzer*innen in den gesamten Prozess des Wissenstransfers (Pérez Jolles et al., 2022).

Außerdem ist angedacht, konkrete, niederschwellige Maßnahmen zu ergreifen, die in den Alltag der teilnehmenden Einrichtungen integriert werden können: Schulungsmaßnahmen zu den ausgewählten Assessments in bestehende On-Boarding-Programme für neue Kolleg*innen aufnehmen; digitale Materialien und regelmäßige Erinnerungen im Intranet des Konzerns zur Verfügung stellen und jährliche Austauschmöglichkeiten zum Thema „Assessments in der Neurologie“ über den Therapie-Stammtisch, der vom SRH-Therapie-Netzwerk regelmäßig angeboten wird, ermöglichen.

DISKUSSION

Der vorliegende Artikel stellt ein Anwendungsbeispiel zur Nutzung von TMFs im Rahmen eines Implementierungsprojekts in der deutschen Physiotherapie dar. Der KTA-Zyklus erwies sich als äußerst hilfreich für die Konzeption und die organisatorische sowie inhaltliche Strukturierung unseres mehrphasigen Implementierungsprojekts. Als strukturgebender Rahmen schafft der KTA-Zyklus auch eine Grundlage für eine gemeinsame Sprache mit allen am Projekt beteiligten Personen und ermöglichte unter anderem, die Bedeutung und Notwendigkeit der einzelnen Phasen sowohl Fördergeber*innen als auch Praktiker*innen transparent darzustellen.

Während der KTA-Zyklus als Prozessmodell vor allem einen übergeordneten Rahmen bietet, unterstützt die Nutzung weiterer TMFs vor allem die theoretische Fundierung und methodische Konzeption der einzelnen KTA-Phasen. Herausfordernd ist dabei jedoch die Auswahl für das Projekt geeigneter TMFs, die auf die jeweiligen Kontextbedingungen und Ziele der einzelnen Phasen abgestimmt sein müssen.

Die am Beginn des Projekts durchgeführte, umfassende Problemidentifikation in den beteiligten Einrichtungen erwies sich als essenzieller Bestandteil des gesamten Forschungsprozesses. Dadurch wurde eine fundierte Ausgangsbasis geschaffen, die Relevanz des Projektziels konnte klar herausgearbeitet werden, und Praktiker*innen, wie z.B. die Therapieleitungen der neurologischen Einrichtungen, konnten von Beginn an in das Projekt eingebunden werden. Durch die Einbindung der Praktiker*innen bereits in die ersten, also vorbereitenden, Phasen der Implementierung kann das wissenschaftliche Projekt praxisnah gestaltet werden, was wiederum die Realisierbarkeit und Anwendbarkeit der Ergebnisse im Versorgungsalltag erhöht.

Die konkrete Methode sowie die Ergebnisse der einzelnen Phasen der Umsetzung anhand des KTA-Zyklus werden in separaten Manuskripten unter Nutzung entsprechender Reporting Guidelines veröffentlicht.

PROJEKTTEAM VON ASSESSMOBILITY

Prof. Dr. Gudrun Diermayr, Physiotherapeutin (SRH University of Applied Science Heidelberg) leitet das Projekt. Maria Stadel, M.Sc., Physiotherapeutin (SRH University of Applied Science Heidelberg) promoviert im Rahmen des Projekts an der Medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg. Das Thesis Advisory Board der Universität Heidelberg begleitet die Promotion; die Mitglieder sind Priv.-Doz. Dr. med. Martin Jakobs (Universitätsklinikum Heidelberg, Sektionsleiter Stereotaxie und Funktionelle Neurochirurgie, Doktorvater), Prof. Dr. Gudrun Diermayr, Prof. Dr. Nancy Salbach, Physiotherapeutin und internationale Expertin im Bereich der Implementierungswissenschaften (University of Toronto) und Dr. med. Andreas Becker (SRH Kurpfalzkrankenhaus Heidelberg), Chefarzt für Neurologie.

Mit Marilena Marino, Physiotherapeutin und fachliche Leitung der SRH Campus Ambulanz, ergänzt eine Therapeutin aus einer beteiligten Einrichtung das Projektteam. Außerdem sind die Physiotherapeutinnen Prof. Dr. Claudia Barthel, Physiotherapeutin (SRH University of Applied Science Heidelberg) und Andrea Greisberger, M. Sc. (FH Campus Wien) als Expertinnen für Neurorehabilitation bzw. Assessmentnutzung Mitglieder der Projektgruppe.

Language: English, German
Page range: 82 - 92
Submitted on: Feb 18, 2025
Accepted on: Jun 11, 2025
Published on: Aug 13, 2025
Published by: ZHAW Zurich University of Applied Sciences
In partnership with: Paradigm Publishing Services
Publication frequency: 1 issue per year

© 2025 Maria Stadel, Gudrun Diermayr, published by ZHAW Zurich University of Applied Sciences
This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 License.